Microsoft im KI-Fieber – und im Machtrausch

Microsoft war in diesem Jahr ein extre­mer Turbo bei der künst­li­chen In­tel­li­genz. Die ge­sell­schaft­lichen Gefah­ren scheinen dem Kon­zern gleich­gül­tig zu sein und auch in anderen Be­langen zeig­te er sich als Egoist.

Huch, ist schon wieder Zeit für die Jahresmusterungen? Ja, ist es: Vom Dezember ist nicht mehr sehr viel übrig. Und an der vorgerückten Stelle im Kalender bin ich in der Stimmung, 2023 ein herzliches «Figg di!» nachzurufen: Denn dieses Jahr stellt sich in eine Reihe mit seinen Vorgängern in diesem Jahrzehnt, die geopolitische Misere, Leid und Verzweiflung gebracht haben.

Aber zum Glück bin ich spezialisierter Blogger und brauche mich bloss mit der technoiden Bilanz von 2023 zu beschäftigen: Meinen Rückblick beginne ich mit einem Konzern, der in diesem Jahr fiebrige Aktivitäten an den Tag gelegt hat. Wäre er ein Mensch und ein Bekannter von mir, hätte ich mich vorsichtig erkundigt, ob alles in Ordnung ist und wie es um den Drogenkonsum bestellt ist. Denn wie Microsoft dieses Jahr auf die Tube gedrückt hat, ist schon nicht mehr normal.

Im Frühling hat Microsoft die Kurve gerade noch gekriegt

Microsoft hat 2023 wie kein anderes Unternehmen auf die Karte der künstlichen Intelligenz gesetzt. Es ging schon früh los mit «The New Bing». Mein erstes Urteil im März war verheerend. Damals befand sich der Bot noch in der geschlossenen Betaphase. Doch ich musste Microsoft zugutehalten, dass bei der öffentlichen Lancierung im Mai die gröbsten Mängel behoben waren.

Spätestens in dem Moment wurde verständlich, warum Microsoft dieses atemberaubende Tempo vorlegt: Niemand konnte mehr leugnen, dass diese technische Revolution real ist und sie unglaublich schnell vonstattengeht. Die Fortschritte folgten so dicht aufeinander, dass es seither keinerlei Zweifel mehr an den Tatsachen gibt: Die KI ist unser neuer Arbeitskollege – und zwar per sofort, und ob uns das passt oder nicht.

Dazulernen müssen die Nutzerinnen und Nutzer

Ebenso offensichtlich war, dass die grundsätzlichen Probleme nicht verschwinden würden. Die KI, bzw. maschinell lernenden Systeme besitzen keinen moralischen Kompass. Sie wissen nicht, was wahr und falsch ist und sie sind nicht vor Vorurteilen, Falschinformationen oder gar Lügen, Manipulation und voreingenommenen Urteilen gefeit. Das müssen wir als Nutzerinnen und Nutzer wissen, und mir wissen. Wir müssen uns angewöhnen, die Auskünfte zu überprüfen und die Systeme stets mit einem gesunden Misstrauen nutzen.

In dieser Situation war und bin ich der Meinung, dass Microsofts Turbo-Strategie nicht sinnvoll ist. Es wäre klüger, langsamer an die Sache heranzugehen, die Risiken abzuschätzen und der Menschheit Zeit zu geben, sich an die neue Situation zu gewöhnen. Das haben viele Experten Ende März in einem offenen Brief gefordert. Aber es sollte nicht verwundern, wie Microsoft entscheidet, wenn es um die Abwägung der eigenen Interessen gegenüber den der Menschheit geht. Microsoft zieht die eigenen Interessen vor – und will die Gelegenheit nicht verstreichen lassen, sich in der neuen Welt eine Pole-Position zu verschaffen. Den klar: Die Karten werden neu gemischt und Unternehmen, die nicht mitkommen, denen droht die Bedeutungslosigkeit.

Das alles soll sich für Microsoft lohnen

Die KI durchdringt inzwischen die ganze Produktpalette. Wo sie bisher nicht eingebaut ist, ist sie angekündigt: Der Copilot in Windows, in Office, im Browser – und, nicht zu vergessen, Image Creator in Paint. Und warum das Ganze? Natürlich, weil der Konzern auf beträchtliche Mehreinnahmen hofft.

Microsoft hat im November fast einen Coup gelandet und den ehemaligen Chef von Open AI mit offenen Armen empfangen. Und nicht nur ihn: Nebst Sam Altman und Greg Brockman sollten weitere hochrangige Mitarbeiter des KI-Pioniers wechseln und es sah kurz so aus, als würde sich Microsoft Open AI zumindest teilweise einverleiben. Das hätte die Position Microsofts als KI-Unternehmen beträchtlich gestärkt. Aber auch mit der Wiederherstellung der Ursprungsverhältnisse steht Satya Nadella nicht schlecht da.

KI überall – auch in Bing.

Microsoft hat 2023 den Fortschritt vorangebracht, aber aus hauptsächlich egoistischen Motiven. Der Konzern hat die Verzahnung seiner Produkte und Dienste in diesem Jahr extrem forciert. Es wird für Nutzerinnen und Nutzer immer schwerer, Windows von Onedrive oder Edge von MSN zu trennen. Der Browser und auch das Betriebssystem drohen, zu einer Adware für die Clouddienste zu verkommen. Bei Onedrive ist das besonders deutlich zu sehen: Hier stellt Microsoft das Eigeninteresse radikal über die Bedürfnisse der Kundschaft.

Antitrust-Klage, anyone?

Die neue Sicherungs-App ist bloss eine verkappte Werbeaktion für Onedrive.

Wir erinnern uns, dass Microsoft mehrfach genau wegen derlei Praktiken angeklagt war: In den USA gab es 2001 ein kartellrechtliches Verfahren wegen Anzeichen eines Monopols.

Die EU-Kommission hat sich 2004 an der Bündelung von Dingen wie dem Media Player mit dem Betriebssystem gestört und dazu geführt, dass eine abgespeckte Version von Windows ausgeliefert werden musste. Aus dem Zwist mit der EU ist auch die Verpflichtung entstanden, dass Microsoft in Windows ein Auswahlfenster für alternative Browser anbieten musste.

Man kann argumentieren, es die Desktop-Plattformen seien nicht mehr so wichtig, da sich das Leben quasi aufs Smartphone und Tablet verlagert habe und es dort mit Android und iOS ausreichend Wahlfreiheit gebe. Ich sehe das nicht so: Die enge Verzahnung von Betriebssystem und Clouddiensten halte ich für problematisch. Microsoft sollte gezwungen werden, Windows so weit für Dritte zu öffnen, dass sich deren Cloud-Dienste genauso komfortabel z.B. fürs Backup, für die Synchronisation von Fotos oder Dateien via Platzhalter nutzen lassen. Die gleiche Forderung sollte auch an Apple gestellt werden.

Fazit: Es ist anzuerkennen, dass Microsoft 2023 viel bewegt hat. Aber es steht ausser Frage, dass wir diesem Konzern auch 2024 sehr genau auf die Finger schauen müssen.

Beitragsbild: Microsoft – ein Symbolbild (Microsoft Image Creator zum Prompt «A huge desktop pc with an evil grin on the computer screen, surrounded by a mass of tiny humans, who are looking up to the computer – an realistic illustration in dark colors»).

2 Kommentare zu «Microsoft im KI-Fieber – und im Machtrausch»

  1. Was mich auch geärgert hat in diesem Zusammenhang: Der WebDAV-Client wurde abgekündigt. Er wird in künftigen Versionen von Windows vorerst noch als installierbares Feature enthalten sein, aber zu einem anderen Zeitpunkt verschwinden.

    Mit dem WebDAV-Client hat man Freigaben über HTTPS als Laufwerksbuchstaben einbinden können. Das wurde von vielen Anbietern genutzt, auch von Nextcloud oder Synology. (Wobei die zumindest auch per eigenem Sync-Client zugänglich sind.)

    Weshalb entfernt man ein Feature, welches immer funktioniert hat, wie den WebDAV-Client? Vermutung: „Schönes GMX-Cloud-Drive/Nextcloud/Strato-HiDrive/Synology haben Sie da! Schade, dass das bald nicht mehr wie gewohnt funktioniert! Aber hier, OneDrive wäre doch was?“

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