Was soll Microsofts plötzliche Begeisterung für Paint?

Der Windows-Konzern hat seinem wäh­rend Jahr­zehn­ten ver­nach­lässig­ten Mal­pro­gramm völlig un­er­wartet zwei neue Funk­tionen spen­diert. Ich habe einen Ver­dacht, wozu das gut sein soll.

Es gibt einige Programme, die ich seit Jahren oder Jahrzehnten nicht benutze. Zu denen gehört ohne Zweifel Microsoft Paint. Das wurde 1985 mit Windows 1.0 eingeführt und war mir immer zu schwachbrüstig. Es hat bis heute nur ein paar wenige Zeichenwerkzeuge. Es ist kein sonderlich guter Viewer für Grafikdateien. Und auch rudimentären Retuschen ist es nicht gewachsen.

Darum war mir schon in den Anfangszeiten meiner Karriere als Computerbenutzer klar, dass ich mit dem Programm nicht meine Zeit vertrödeln würde: Ich habe mir stattdessen Coreldraw geleistet, auf allen meinen Computern Irfanview installiert und natürlich auch das Angebot aus der Open-Source-Welt inspiziert. Und ja, Gimp ist noch immer keine Schönheit – aber ein echter Schwerarbeiter.

Doch nun ist mir aufgefallen, dass sich Microsoft nach 38 Jahren entschlossen hat, Paint aus dem Dornröschenschlaf aufzuwecken. Es wird demnächst eine KI-Funktion namens Cocreator geben, mit der wir in Paint mittels generativer künstlicher Intelligenz Elemente zu Bildern hinzufügen können. Diese Funktion steht mir bislang nicht zur Verfügung – aber wenn sie auftaucht, werde ich sie natürlich separat besprechen.

Was aber bereits funktioniert, sind zwei andere Neuerungen:

1) Hintergrund entfernen

Die neue Funktion Hintergrund entfernen findet sich im Menüband im Abschnitt Bild unten links. Sie macht das, was man erwarten würde: Sie stellt vollautomatisch das Hauptobjekt frei. Dazu identifiziert sie das Hauptmotiv und löst es von der Umgebung, indem diese auf transparent gestellt wird.

Das Freistellen ist eine zentrale Aufgabe, wenn mehrere Objekte in einem Bild arrangiert werden sollen. Photoshop hat zwar seit vielen Jahren Funktionen wie das Schnellauswahl-Werkzeug oder der Zauberstab, die dabei helfen – doch die änderten nichts daran, dass das Freistellen bis vor einigen Jahren eine mühsame Handarbeit war. Die Tiefenkamera beim iPhone hat das vor ein paar Jahren vereinfacht, sodass ich damals geurteilt habe, dank dieser Erleichterung würden Bildbearbeiter vor Glück weinen.

Das Beitragsbild, von Microsoft Paint freigestellt. Da es sich um ein wirklich schwieriges Motiv handelt, ist das Resultat nicht so schlecht – auch wenn wir bei den Beinen der Staffelei Unsauberkeiten inkauf nehmen müssen.
Paint stellt eine Geister-Fledermaus frei.

Ich hätte damals nicht gedacht, dass das bald auch ohne die Tiefeninformationen möglich sein würde. Wiederum das iPhone beherrscht das Freistellen inzwischen routinemässig: Die Funktion Motiv vom Hintergrund lösen hat mit iOS 16 Einzug gehalten und ist maximal einfach zu verwenden (siehe hier im Abschnitt vier).

Ich habe das Freistellen bei einigen Motiven probiert. Es funktioniert ganz ordentlich, wenngleich mich Paint überrascht hat, indem bei einem komplett leeren Bild ein weisses Überbleibsel im Bild blieb, das an eine Fledermaus erinnert.

2) Die Ebenen

Ebenen sind für vielerlei Bildbearbeitungsaufgaben unverzichtbar: Sie sind Dreh- und Angelpunkt bei Kompositionen. Wir brauchen sie auch für komplexere Korrekturen, für Maskierungen, Textelemente und viele Dinge mehr. Sie sind so wichtig, dass sie einen eigenen Wikipedia-Artikel haben.

Darum ist es zu begrüssen, dass Paint nun ebenfalls eine Ebenenverwaltung erhält. Auch wenn die erstens in Deusch unsinnigerweise «Schichten» heisst¹ und nicht sehr leistungsfähig ist: Wir können Schichten hinzufügen, ausblenden und löschen, in der Reihenfolge verändern und zusammenführen.

Eine Komposition aus drei Ebenen: Der freigestellte Maler, ein neuer Hintergrund und eine Textebene.

Mehr geht nicht, obwohl zumindest die Möglichkeit, die Deckkraft zu verändern zwingend dazugehören würde. Auch ein paar Mischmodi wären nett, ebenso die Möglichkeit, sie mit einem Namen zu versehen. Von all den schönen Ebenenfunktionen wie die Stile, die Korrekturen zur nondestruktiven Bildbearbeitung oder den Smartobjekten wollen wir erst gar nicht anfangen – denn dass Paint nicht plötzlich zu einem Rivalen für Photoshop wird, leuchtet schon ein.

Fazit: Was bringts?

Diese beiden Neuerungen machen aus Microsoft Paint keine leistungsfähige Bildbearbeitung mit universellem Anspruch. Es bleibt dabei, dass die eingangs erwähnten Apps dafür besser geeignet sind. Und wer mit Gimp nicht warmwird, der sollte sich Affinity Photo ansehen, das es nebst Windows auch für den Mac und das iPhone und iPad gibt.

Immerhin: Wer seine künstlerische Ader mittels Paint ausgelebt hat – und solche Leute gibt es – der wird sich über die Neuerungen freuen. Und auch für alle anderen ist es praktisch, mittels Paint auf die Schnelle ein Bild freistellen zu können. Meine Vermutung ist, dass Microsoft beabsichtigt, Paint in eine Art KI-Bildeditor umzuwandeln: Denn dafür wären die beiden Neuerungen tatsächlich praktisch: Wir könnten ein Motiv freistellen und auf separaten Ebenen mittels KI neue Hintergründe und zusätzliche Elemente generieren und die zu einer Komposition zusammenbauen, die echte und künstliche Elemente enthält.

Das wäre praktisch – und nach 38 Jahren ein Alleinstellungsmerkmal für Paint.

Fussnoten

1) In der endgültigen Version heissen die Ebenen nun auch bei Paint Ebenen.

Beitragsbild: Ihm wäre Microsoft Paint vermutlich keine grosse Hilfe (Heinz Klier, Pexels-Lizenz).

3 Kommentare zu «Was soll Microsofts plötzliche Begeisterung für Paint?»

  1. Ich bin ein begeisterter Paint Nutzer. Bei sehr vielen Teams Calls öffne ich Paint und visualisiere meinen Beitrag. Paint ist einfach und schnell und immer da. Die neuen Funktionen wie Layer sind genau das, was mir noch gefehlt hat.

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