Ein ganzes Leben in zwei Bildern

Fotos frieren einen Moment in der Zeit ein. Und sie ver­mögen, Jahre oder Jahr­zehn­te zu über­springen – näm­lich dann, wenn zwei Fotos die gleiche Szene zu unter­schied­lichen Zeiten zeigen.

Ist es eine Technik oder doch eher ein Inszenierungskonzept? Egal – und überhaupt sollte ich meine Blogposts nicht mit einer terminologischen Haarspalterei anfangen, sondern mit einer Erklärung, warum ich diese Sache so spannend finde.

Also, es geht um fotografische Nachstellungen. Diese Reenactment-Fotografie ist oft ein Nebenprodukt jener Veranstaltungen, bei denen historische Ereignisse wiederbelebt werden. Wie Wikipedia weiss, werden gern Schlachten und Belagerungen nachgespielt, die hier in Europa, in England oder den USA stattgefunden haben. Die englische Variante des Beitrags ist noch ausführlicher und u.a. den Ersten und Zweiten Weltkrieg, den Sezessionskrieg und den Vietnamkrieg auf. Natürlich gibt es auch Fans von Wikingern oder der Renaissance. Und wir hatten hier in der Umgebung nicht nur einen Mittelaltermarkt, sondern auch ein Ritterturnier.

Eskapismus ins Mittelalter

Dabei geht es um Leute, die gern in historische Uniformen schlüpfen und vorgeben, Mittelhochdeutsch zu sprechen. Im Idealfall gibt es etwas zu lernen; aber meistens dürfte das Abenteuer und der Klamauk überwiegen. Und es gibt auch ein Problem mit Leuten, die unter dem historischen Vorwand und mit etwas zu viel Begeisterung in eine Uniform der Waffen-SS schlüpfen.

Aber gleichgültig, ob wir das als lehrreich oder als Kindergartenspiele für Erwachsene betrachten, eines ist klar: Für fotografische Motive sind derlei Anlässe grossartig.

Es gibt eine Variante der fotografischen Reenactments, die ich besonders mag: Das ist das Nachstellen alter Aufnahmen.

Sind die heute bloss dicker angezogen?

Das Ausgangsbild könnte ein historisches Bild sein, aber noch spannender finde ich das Reenactment von Bildern aus dem Familienalbum. Das zeigt die magische Kraft der Fotografie, die Zeit einfrieren zu können. Und gleichzeitig spannt sie anhand zweier Fixpunkte einen temporalen Bogen – eine Verbindung vom Gestern ins Jetzt. Ein solches Bild zeigt Seite an Seite, was sich verändert hat und was gleich geblieben ist.

Der Twitter-Account @Oldphotoinreal tut tat¹ das auf eindrückliche Weise. Zum Beispiel mit dem Reenactment der weltberühmten Aufnahme Lunch atop a Skyscraper. Sie stammt vom 20. September 1932 und zeigt elf Bauarbeiter, die während des Baus des RCA-Gebäudes in Manhattan auf einem Stahlträger 260 Meter über dem ihr Mittagessen geniessen.

Technische Perfektion: spannend, aber nicht zwingend

Natürlich können die Nerds unter den Fotografen solche Reenactments als technische Herausforderung verstehen: Dann geht es darum, die alte Aufnahme möglichst exakt nachzustellen. Wir müssen herausfinden, was für ein Objektiv zum Einsatz kam und Abstand, Kameraposition und Perspektive möglichst exakt nachvollziehen. Wir brauchen ähnliche Lichtverhältnisse und natürlich sollte auch die Jahreszeit plus/minus mit dem Original übereinstimmen.

Wo ist bloss die Jugend hin?

Das hat seinen Reiz für Leute, die ihr fotografisches Handwerk perfektionieren wollen, aber fürs Resultat ist Perfektion nicht entscheidend. Abgesehen davon, dass man auch einfach pragmatisch sein muss, wenn die exakte Nachstellung nicht möglich ist. Das zeigt sich bei meinem Bild, auf dem ich mit Karl Marx und Friedrich Engels posiere. Beim ersten Bild, das von 1991 stammt, stand hinter dem Marx-Engels-Forum noch der Palast der Republik. Die neuere Aufnahme ist allerdings auch schon wieder zehn Jahre alt; sie stammt von 14. August 2013.

Das erste und das letzte Bild

Bei @Oldphotoinreal gibt es viele Beispiele von Familien und Freunden, die Fotos aus früheren Tagen nachgestellt haben. Die erzählen von einem bewegten Leben; vom Verschwinden der Jugend und der verflogenen Zeit. Auf dem ersten Bild standen den Menschen auf den Fotos noch alle Möglichkeiten offen. Auf dem zweiten haben sie ihre Entscheidungen getroffen und wurden dafür mit Erinnerungen belohnt – oder vielleicht auch bestraft. Das ist beglückend und traurig gleichzeitig. Und als Foto oft unglaublich kraftvoll.

Ein Bild rührt mich zu Tränen, obwohl es kein Reenactment ist. Es ist mit first photo und last photo beschriftet. Es umschreibt mit einer Gegenüberstellung die ganze Schönheit und Tragik des menschlichen Lebens.

Das erste Foto. Und das letzte.

Fussnoten

1) Diesen Beitrag habe ich vor drei Wochen geschrieben; als Überbrückung während meiner Ferien. Und siehe da: Während ich weg war, ist der Twitter-Account auch schon verschwunden. Über die Gründe kann ich nur spekulieren, aber die Vermutung, dass das Urheberrecht im Spiel ist, scheint mir naheliegend. Immerhin war ich so schlau, die Tweets nicht einzubetten, sondern als dokumentarische Screenshots abzubilden.

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