Superhelden wider Willen

In «Helix – Sie werden uns ersetzen» spekuliert Marc Elsberg, wie es sein wird, wenn die ersten genetisch optimierten Menschen über ihre Existenz nach­denken und sich nicht damit abfinden können, etwas so Beson­deres zu sein.

Nach meiner Lektüre von «Blackout» (Zappenduster und eiskalt) war mir sofort klar, dass ich von diesem Autor noch mehr würde lesen wollen. Ich habe mich also sogleich dem nächsten Werk von Marc Elsberg zugewandt. Das ist das Buch von 2016. Und ich verrate nicht zu viel, wenn ich sage, dass der dritte Elsberg, nämlich das brandneue Buch Der Fall des Präsidenten bereits in der Pipeline steckt.

Ein bisschen am Erbgut herumzubasteln, wird demnächst ganz normal sein.

Aber das Buch, um das es jetzt geht, stammt von 2016 und heisst Helix – Sie werden uns ersetzen. Wenn man davon absieht, dass das Buch eigentlich Doppelhelix heissen müsste, bringt der Titel die Geschichte auf den Punkt: Die Helix bezieht sich auf unser Erbgut, das bekanntlich als Doppelstrang angelegt ist …

… und es tut mir leid, dass ich an dieser Stelle ein Detail einflechten muss, das ich mir nicht verkneifen kann, wenn von der Desoxy­ribonuklein­säure die Rede ist, seit ich beim Surfen im Netz (hier, PDF) zufällig darübergestolpert bin. Also, Zitat:

Die DNS in einer menschlichen Zelle hat eine Länge von etwa zwei Metern. Ein Mensch besteht aus hundert Billionen Zellen, davon sind 25 Prozent Blutzellen, die keinen Zellkern haben. Die Länge der DNA in einem Menschen beträgt also 150 Milliarden Kilometer. Das ist 25 Mal die Strecke von der Sonne zum Pluto.

Zitat Ende. Und zurück zum Titel, der auch aus der Unterzeile «Sie werden uns ersetzen» besteht. Ohne zu viel zu verraten: Das «Sie» bezieht sich auf die Menschen, die genetisch optimiert worden sind und sich nun mit uns normalen, nicht-optimierten Produkten der Evolution herumschlagen müssen.

Gelungene Sciencefiction

Das ist eine hervorragende Ausgangslage für eine Near-Future-Geschichte, die sich genau mit solchen Dingen herumschlagen sollte – weil Science-Fiction sich zwar gerne auch mit Ausserirdischen beschäftigen darf, aber immer dann besonders relevant ist, wenn sie sich auf eine Weise mit dem Fortschritt beschäftigt, der uns interessante neue Einsichten vermittelt und uns gleichzeitig bei der Lektüre nicht langweilt oder in eine miesepetrige Stimmung versetzt.

Das ist Marc Elsberg hervorragend gelungen, auch wenn ich im direkten Vergleich «Blackout» noch etwas mehr auf den Punkt und aus erzählerischer Sicht packender fand. Das spricht aber überhaupt nicht gegen das Buch – im Gegenteil. Wer auf Thriller mit einem wissenschaftlichen Hintergrund steht, ist mit diesem Werk bestens bedient.

Kritisieren würde ich, dass man aus der Geschichte noch mehr hätte herausholen können. Es gibt einen langen und actionreichen Showdown, der dem Dilemma auch der Hauptfiguren nicht gerecht wird. Das bezieht sich vor allem auf Jill: Sie hätte ins Zentrum der Geschichte gehört.

Und ja, ich verstehe, dass der Autor sie im Dunkeln lässt, um ihr Geheimnis möglichst lange im Dunkeln zu behalten. Aber ich glaube, ihr Schicksal wäre verbindlicher geworden, wenn wir Leserinnen die Geschichte aus ihrer Perspektive erlebt hätten – dafür hätte man gut auf die Episode mit dem US-Aussenminister zu Beginn verzichten können. Die schafft es zwar, den Leser in Spannung zu versetzen, aber sie passt nicht wirklich zum weiteren Verlauf der Ereignisse und wirkt aufgepfropft.

Wer will den Agrarmultis den Profit vermiesen?

Um das näher zu begründen, muss ich in die Details gehen – und ab hier auch das eine oder andere Detail spoilern. Nebst dem toten US-Aussenminister fängt die Geschichte damit an, dass in Brasilien, Tansania und Indien Ziegen und Maissorten auftauchen, die erstaunlich resistent und ertragreich sind, was offensichtlich auf genetische Manipulationen zurückzuführen ist. Doch die grossen Agrarmultis wissen nicht, woher diese Produkte stammen – denn typischerweise ist es so, dass sie ihre optimierten Pflanzen und Tiere nicht kostenlos freilassen, sondern gegen teure Lizenzgebühren an die Bauern abgeben. Das ist eine Bedrohung des Geschäftsmodells, gegen das sie unbedingt einschreiten müssen.

Parallel zu diesem Rätsel begeben sich Helen und Greg in eine Klinik, um ihrem Kinderwunsch mit medizinischen Mitteln nachzuhelfen. Dabei erfahren sie von der Möglichkeit, ihrem zukünftigen Kind mittels gentechnischer Mittel einen Vorteil im Leben zu verschaffen: Bessere Intelligenz, überragende körperliche Eigenschaften, Schönheit und Leistungsfähigkeit – denn Doktor Stanley Winthorpe bietet Designerbabys an, bei denen die Eltern die gewünschten Eigenschaften in einer App bloss anzukreuzen brauchen.

Jill und Eugene sind unzufriedene Supermenschen

Im Verlauf der Geschichte stellt sich heraus, dass zwei Produkte dieser Optimierungsbemühungen, nämlich Jill und Eugene, ihre überragenden Eigenschaften nicht einfach dazu benutzen, brave und erfolgreiche Mitglieder der Gesellschaft zu sein. Im Gegenteil: Ihnen ist bewusst, dass sie nicht in diese Gesellschaft passen. Die «modernen Kinder», wie das im Jargon von Stanley Winthorpe und seinen Leuten heisst, sind im Grund eine eigene Spezies, die sich in Gesellschaft der nicht-optimierten, «alten» Menschen fehl am Platz fühlen müssen.

Eugene schlägt sich auf die böse Seite und entwickelt das Killervirus, das den Aussenminister dahinrafft. Jill hingegen findet, dass die Segnungen der Menschheit allen zugutekommen dürfte und hat kein Problem damit, dass während der ihrer Experimente die verbesserten Lebensformen, die in mehreren Ländern in die freie Wildbahn geraten, das Geschäftsmodell der Agrarmultis bedrohen. Denn sie verficht eine Art Open-Source-Modell für diese neuen Errungenschaften: Die genetischen Besonderheiten werden in ein Virus integriert und sollen sich von allein über den ganzen Globus verbreiten, und eben nicht nur einer kleinen Elite nützen, die sich ein Designerbaby leisten kann.

Und klar: Für die Dramatik ist Eugene eine dankbare Figur – und ohne Zweifel ist die Möglichkeit eines individuell auf eine Person abgestimmten Killervirus eine ziemlich beängstigende Vorstellung. Trotzdem hätte ich es spannender gefunden, Gills Vision in den Vordergrund zu stellen: Die Segnungen der Genetik, die der gesamten Menschheit zugutekommen, die aber unweigerlich mit dem kapitalistischen System auf Konfrontationskurs gehen.

Will die Menschheit überhaupt optimiert werden?

Es hätte für meinen Geschmack noch mehr um die Frage gehen dürfen, ob die Menschheit denn überhaupt optimiert werden will – und ob eben nicht Gills Idee, künftige Kinder ohne Wissen der Eltern und ohne deren Einverständnis nicht eigentlich bösartig genug ist – sodass es den bösen Eugene in dieser Geschichte gar nicht gebraucht hätte.

So oder so zeigt das Buch das Dilemma, das die Gentechnik mit sich bringt, hervorragend auf. Und es hätte auch eine ganz andere Richtung nehmen können – und ein melancholisches Werk über die Einsamkeit eines Superhelden werden können, so wie das Andreas Eschbach im Buch «Der Letzte seiner Art» gemacht hat (siehe Terminators melancholische Seite). «Die ersten Ihrer Art» wäre übrigens ein hervorragender Titel für ein solches Werk…

Beitragsbild: Mit zehn Jahren am MIT, mit 15 Astronaut – muss das wirklich sein? (Amina Filkins, Pexels-Lizenz)

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