Volker Kutscher hat mit seiner Krimireihe um Gereon Rath und Charlotte Ritter einen wesentlichen Teil meines literarischen Jahres 2023 bestritten: Aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen bin ich mit Buch vier eingestiegen und habe mir danach die übrigen acht Titel vorgenommen. Jetzt bin ich gespannt, wie es mit Gereon in den USA weitergeht – und ob es Charly schafft, sich rechtzeitig aus dem Nazi-verseuchten Berlin abzusetzen.
Die Buchreihe wurde fürs Fernsehen unter dem Titel Babylon Berlin adaptiert. Ich habe mir die erste Staffel angesehen und muss mir nach dieser Erfahrung bloggenderweise Luft machen. Ich bin froh über meine Entscheidung, erst die Bücher zu lesen und mich dann der Serie zu widmen.
Aber lasst mich mit den positiven Dingen anfangen: Die Inszenierung ist grossartig. Severija (Severija Janušauskaitė), die im «Moka Efti» ihr Stück «Zu Asche, zu Staub» aufführt, liefert einen Gänsehaut-Moment, wie ich ihn bei einer Serie schon lang nicht mehr erlebt habe. Auch die Szenenbilder entwickeln so einen Sog, dass wir als Zuschauerinnen gar nicht anders können, als Hals über Kopf ins Berlin der 1920er-Jahre einzutauchen. Das Buch mit seinem nüchterneren Ton kann nicht mithalten. Das Medium Film spielt seine evozierende Wucht gnadenlos aus.
Die Schauspieler: Grossartig!
Und die Schauspieler sind toll: Volker Bruch als Gereon Rath, Liv Lisa Fries als Charlotte Ritter und vor allem Peter Kurth als Bruno Wolter kann man nur als perfekte Besetzung bezeichnen. Ganz anders als bei vielen Literaturverfilmungen hatte ich keinen Moment den Gedanken im Kopf, dass ich mir diese oder jene Figur aber ganz anders vorgestellt habe.
So weit, so positiv. Meine liebe Mühe habe ich indes mit den «künstlerischen Freiheiten», die sich Tom Tykwer und seine Mitstreiter bei ihrer Erzählung genommen haben. Die Anpassungen beim Plot hätte ich verkraften können, auch wenn ich die Kriminalerzählung im Buch stringenter fand.
Nicht einverstanden bin ich mit den abgeänderten Biografien der Hauptfiguren. Gereon Rath ist ein vom Grauen des Ersten Weltkriegs geprägter Zitterer. Im Buch ist er dem Schützengraben entgangen. Stattdessen hat sein Vater, der Kriminaldirektor Engelbert Rath in Köln, seine Versetzung aus der Heimatstadt nach Berlin eingefädelt, um ihn aus der Schusslinie der Medien zu nehmen. Gereon hatte bei einem missglückten Polizeieinsatz den Sohn des dortigen Pressemagnaten erschossen.
Warum bloss, warum?!
Noch viel schlimmer ist es unter der Hand Tom Tykwers Charlotte Ritter und Reinhold Gräf ergangen. Statt aus einem kleinbürgerlichen Milieu kommt Charly in der Serie aus prekären Verhältnissen. Sie muss sich mit Prostitution über Wasser halten und im «Moka Efti» auch Bruno Wolter zu Diensten sein. Das mag der Geschichte Dringlichkeit und Dramatik verleihen, aber es beschädigt die Figur der Charlotte Ritter nachhaltig.
Gräf tritt in der Serie als Transvestit auf. Auch diese Charakteränderung soll wohl dazu beitragen, dass Zuschauerinnen und Zuschauer Berlin als Sündenpfuhl wahrnehmen, in dem jeder ein Doppelleben führt. Ich fand aber die Darstellung von Gräf im Buch viel überzeugender: Er braucht lange für sein Coming-out und es wäre für diese Figur völlig unvorstellbar, sich in Frauenkleidern in die Öffentlichkeit zu wagen.
Und während ein Transvestit in einem Nachtclub Berlins in der Zeit der Geschichte vermutlich nichts Ungewöhnliches war, so war Homosexualität im «normalen Alltag» verboten. Sie konnte nur im Versteckten gelebt werden, was in der Vorlage wichtig für den Verlauf der Ereignisse ist. In den Büchern lässt sich Gräf auf eine Affäre mit einem schwulen SS-Mann ein, was umso eindrücklicher ist, weil Gräf noch immer mit seiner Homosexualität hadert.
Der Autor als Diplomat
Der Autor, Volker Kutscher, hat sich in der FAZ diplomatisch zu diesen Änderungen geäussert:
Ja, die Figuren sind anders angelegt als im Roman. Aber es gab ein Wiedererkennen. Liv Lisa Fries kommt Charlotte, Charly, wie ich sie mir vorstelle, schon vom Aussehen sehr, sehr nah. Sie hat einen anderen sozialen Hintergrund als im Roman, sie muss sich von weiter unten nach oben kämpfen, aber vom Charakter her ist es dieselbe Figur, eine Frau, die die neuen Freiheiten der Republik nutzen möchte, um sich zu emanzipieren. Im Roman sind es kleinbürgerliche Verhältnisse, aus denen sie herauswill. Hier ist es ein Milieu der Armut, das im Roman von den Hauptfiguren nicht bespielt wird. In der Serie rücken so von Anfang an die starken sozialen Gegensätze ins Zentrum.
Der grössere Bogen der Buchreihe führt von der Weimarer Republik zum Unrechtsstaat der Nationalsozialisten. Er zeigt, wie die Figuren Position beziehen, sich von normalen Bürgern, Kollegen und sogar Freunden zu SS-Schergen wandeln oder versuchen, sich den Veränderungen zu verweigern.
Ein wichtiger Aspekt geht verloren
Es ist die grosse Stärke der Buchreihe, dass sie diesen schleichenden Wandel spürbar macht. Das funktioniert aber besser, wenn der Ausgangspunkt die Normalität ist.
Mit den Figuren des Buchs können wir uns problemlos identifizieren: Sie leben zwar fast hundert Jahre früher, aber ansonsten haben sie Ambitionen, Wünsche und Alltagssorgen, die uns vertraut vorkommen. Die «Babylon Berlin»-Figuren sind mir nicht vertraut. Bei denen ist mein vorherrschendes Gefühl die Erleichterung, nicht in ihrer Haut zu stecken.
Fazit: Ob die Änderungen fürs Medium Film sinnvoll oder gar notwendig waren, um für ausreichend Drama zu sorgen, vermag ich nicht zu beurteilen. Für sich gesehen ist «Babylon Berlin» eine hervorragende Serie. Die Lehre aus diesem Vergleich könnte sein, dass es «Bücher-Menschen» und «Film-Menschen» gibt – und ich zur ersten Sorte gehöre.