Sich auf ein Buch einzulassen, fühlt sich manchmal fast so an, als ob wir eine neue Beziehung eingehen würden: Wir nähern der Hauptfigur an, der wir uns bald verbunden fühlen – die uns manchmal aber auch in ihrer Fremdheit fasziniert oder die in uns allerlei seltsame Instinkte weckt.
Wir bekommen es aber nicht nur mit dem Helden oder der Heldin zu tun: Nein, wir geraten auch in ihr Umfeld. Wir lernen ihre Bekannten und Freundinnen kennen, geleiten sie an ihren Arbeitsplatz und landen in ihrer Wohnung, vielleicht auch in der Lieblingskneipe und an all die anderen Stätte ihres Wirkens. Wir tauchen in die Atmosphäre ein, die sie umgibt und fühlen uns wohl – oder eben auch nicht. Manchmal bleibt das ein kurzes Techtelmechtel, aber manchmal wird mehr daraus.
Nur ein One-Night-Stand oder etwas Dauerhaftes?
Als ich neulich «Die Akte Vaterland» besprochen habe, war die Frage offen, ob diese neue Beziehung von Dauer sein würde. Ich wollte schon – aber wie das so ist: Es kommt vor, dass der erste Reiz verfliegt und stattdessen die Mängel virulent werden. Das ist bei Buchserien, genau wie im richtigen Leben, unvermeidlich. Einem schnellen Rausch geben wir uns auch dann gerne hin, wenn wir nicht zusammenpassen. Aber das Ende folgt auf dem Fuss.
Das weiss auch Gereon Rath, der in seinem sechsten Abenteuer am Karneval in Köln derartig versackt, dass er am Morgen neben einer drallen Blondine erwacht, von der er nicht einmal mehr den Namen weiss – aber sich immerhin noch daran erinnert, dass sie Micky-Maus-Ohren getragen hat. Dass er verlobt ist, hat ihn nicht abgehalten, und noch nicht seine Freundschaft mit Paul Wittkamp bringt ihn auf die Idee, für ein geeignetes Plätzchen für den Seitensprung in dessen Weinhandlung einzubrechen. Wir sehen: Das mit den dauerhaften Beziehungen ist auch in dieser Buchreihe eine Herausforderung – selbst wenn sich Rath alle Mühe gibt, die sich anbahnende Ehe mit Charlotte Ritter nicht zu verkacken.
4, 1-3, 5-9
Also, wie man sieht, bin ich bei Volker Kutschers Krimireihe zum Kölner Kommissar, den es in die Berliner Mordkommission verschlagen hat, fast bis zum Ende gelangt – nicht ganz in chronologischer Reihenfolge, weil ich mit Band vier begonnen und dann zum Anfang zurückgekehrt bin:
- Der nasse Fisch (Amazon)
- Der stumme Tod (Amazon)
- Goldstein (Amazon)
- Die Akte Vaterland, hier besprochen (Amazon)
- Märzgefallene (Amazon)
- Lunapark (Amazon)
- Marlow (Amazon)
- Olympia (Amazon)
- Transatlantik (Amazon)
Also, kein literarischer One-Night-Stand, was mich angeht. Alle Bücher (beim letzten bin ich noch nicht durch) überzeugen als eigenständige Krimis. «Der nasse Fisch» ist ein hervorragender Auftakt, der uns mit der Hauptfigur, seiner Arbeit, den Polizeikollegen und vor allem diesem Berlin vertraut macht, das schon 1929 ein Moloch gewesen ist. Grossartig, wie Gereon Rath bei Johann Marlow an den Haken gerät. Der ist Chef der Berolina, also eines Ringvereins, unter dem man sich so eine Art preussische Mafia vorstellen muss.
Etwas Koks, dann versehentlich ein Toter
Achtung Spoiler: Er kann sich nicht verkneifen, sich dem Nachtleben hinzugeben und dabei eine Linie Kokain die Nase hochzuziehen – und weil er hinterher versehentlich einen etwas unvorsichtigen Beschatter erschiesst und die Leiche verschwinden lässt, ist dieses Bündnis besiegelt. Das ist unvorteilhaft für einen Mann, der den moralischen Ansprüchen an einen Vertreter des Gesetzes und einem Helden in einem Kriminalroman entsprechen sollte. Aber es ist, wie wir bald erfahren, nicht untypisch für einen Berliner Polizisten – und auch für Raths Ermittlungsarbeit wird es sich noch als vorteilhaft erweisen. Etwas zu plakativ war mir der Showdown, als sich Bruno Wolter in Salzsäure auflöst. Aber das war definitiv kein Hinderungsgrund für die Vertiefung dieser Beziehung.
Welches sind die besten Folgen der Reihe? Die Frage stellt sich eigentlich nicht, weil ich empfehlen würde, sie alle zu lesen. Und weil man unterscheiden müsste zwischen denen, bei denen in Deutschland noch so etwas wie Realität herrscht und dann, schleichend ab Band fünf, die Nazis die Macht ergreifen und das Land und das Leben der Protagonisten fundamental verändern.
Für die Zeitspanne, in der die Demokratie zwar erodieren, aber noch nicht abgeschafft ist, würde ich als besten Folgen die Bände zwei und drei nominieren; wobei ich «Goldstein» den Vorzug gebe. Der Konflikt zwischen Stumm- und Tonfilm, der in «Der stumme Tod» wunderbar aufgearbeitet wird, dient zwar nicht nur als charmante Kulisse, sondern liefert auch Motiv fürs Verbrechen.
Trotzdem: der charismatische US-Gangster Abraham «Abe» Goldstein, der – Achtung, Spoiler! – vom Beschattungsobjekt zum Verbündeten wird, gibt eine tolle Nebenfigur ab. Dieser dritte Teil ist raffiniert konstruiert, indem mehrere Handlungsstränge solide ineinandergreifen – die beiden Einbrecher im Kadewe, Alex, und Benny. Die Ermordung einiger Ringverein-Mitglieder. Und der Selbstjustiz übende Schutzpolizist Jochen Kuschke, der seinerseits zum Mordopfer wird.
«Wer hat euch denn auf die Uniformen geschissen, dass sie so braun geworden sind?»
Und dieser dritte Teil wird politisch dringlicher. Zwar hatten die Nationalsozialisten auch schon in den vorherigen Büchern ihren Auftritt. Doch inzwischen marodieren die SA-Truppen offen durch die Stadt. Sie pöbeln orthodoxe Juden an, führen sich auf wie die Axt im Wald, aber erwecken auch bei Gereon Rath, der einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn hat, den Eindruck eines vorübergehenden Übels. Wäre es uns anders ergangen? Oder bilden wir uns das ein, weil wir wissen, wohin das führen wird – und weil wir uns an das berühmte Zitat von Erich Kästner erinnern?
Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen. Später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf. Sie ruht erst, wenn sie alles unter sich begraben hat.
Eine Kritik, die ich bei mehreren der Bücher anbringen würde, die ich bei «Goldstein» aber am klarsten auf den Punkt bringen kann, sind die zu abrupten Schlusskapitel. Wir verabschieden zwar den US-Gangster, aber wir erfahren unmittelbar nicht, was aus Alex und Vicky wird.
Dieses Manko machen die nachfolgenden Bände wett, indem es mit Fritze eine neue, wichtige Nebenfigur gibt und wir anhand der einiger Begleiter von Gereon und Charly die Veränderung Deutschlands miterleben: Tornow, der Selbstjustiz übt, dadurch zum Verbrecher wird und genau deswegen so gut ins «neue» Deutschland passt. Oder aber vor allem Reinhold Gräf, der ein Freund hätte werden können, doch wegen seines Privatlebens, unglücklicher Umstände und nicht zuletzt auch wegen einer Veranlagung zum strammen Nazi wird.
Und das zeichnet diese Reihe aus: Es sind nicht, wie etwa in «Fatherland» von Robert Harris und in vielen anderen Geschichten rund ums Dritte Reich Männer, die scheinbar als Nazis geboren wurden und nichts anderes kennen als den Gewalt-Kult um den Führer und die Faschisten. Nein, es sind Figuren, denen wir dabei zusehen können, wie sie werden, was sie am Schluss sind – und die auch unsere Nachbarn, Bekannten oder sogar Freunde hätten sein können …
Beitragsbild: Und nein, ich habe «Babylon Berlin» noch immer nicht gesehen (Presse babylon-berlin.com).