Buch schlägt Glotze

Ich habe «Babylon Berlin» die kalte Schulter gezeigt, weil ich erst die Vorlage lesen wollte: Wie mir «Die Akte Vater­land» von Volker Kutscher span­nende Unter­hal­tung und viele Wiki­pedia-Aus­flü­ge be­schert hat.

Neulich habe ich mich mit dem Gedanken getragen, mir Babylon Berlin anzusehen: Jene Fernsehserie, die seit bald sechs Jahren zu den interessantesten deutschsprachigen Produktionen gehört. Ich habe diese Idee dann weit von mir geschoben – weil ich nämlich gemerkt habe, dass sie auf einer Buchvorlage basiert: Der Krimireihe um den Kriminalkommissar Gereon Rath, die Ex-Journalist Volker Kutscher seit 2008 schreibt.

Ich habe nämlich einen unverrückbaren Grundsatz, was audiovisuelle Produktionen mit literarischer Grundlage angeht: Ich wende mich, falls immer möglich, erst der Vorlage zu. Denn so gut die Verfilmung auch ist, das Buch ist in den allermeisten Fällen besser: Facettenreicher, klarer und das Produkt eines einzigen Kopfes. Filme und Serien sind immer eine Gemeinschaftsleistung. Das ist nicht per se negativ und für Filme und Serien auch nicht verkehrt. Aber eines der tollen Merkmale von Literatur besteht darin, dass ein einziger Kopf sich das ganze Universum ausmalt – Personen, Handlung, Schauplätze, Tonalität und Dialoge.

Die eigenen Bilder im Kopf

Wäre das nicht ein Grund, erst den Film zu sehen und dann das Buch zu lesen, weil das eine Steigerung verspricht? Nein, weil die vorgefertigten Bilder auch die Lektüre überlagern und das eigene Kopfkino behindern. Denn habt ihr es schon einmal erlebt, dass eine Figur in einer Verfilmung so ausgesehen hat, wie ihr sie euch ausgemalt habt? Ich noch nie – die Schauspieler sind im Vergleich zu meiner Vorstellung immer zu schön, zu jung und zu geschminkt.

Wer hat Herbert Lamkau ersäuft?

Also, darum erst das Buch – was auch im Nachhinein betrachtet die richtige Entscheidung war (siehe Mein Gott, Charly, was haben sie dir angetan!).

Aus unerfindlichen Gründen habe ich nicht den ersten Band der Gereon Rath-Reihe erwischt (Der nasse Fisch), sondern den vierten Band, Die Akte Vaterland – so gehts, wenn man dringend Nachschub für die Hörbuch-App braucht und zwischen Tür und Angel noch einen Titel auswählt.

Das war, soweit ich das bisher beurteilen kann, aber kein grosses Problem: Es gibt natürlich eine übergeordnete Handlung. Etwa die, dass Gereon Rath sich entschliesst, der zweiten Hauptfigur, Charly Ritter, einen Heiratsantrag zu machen. Aber ich hatte nicht das Gefühl, dass mir entscheidendes Vorwissen fehlen würde, dass den Lesegenuss schmälert.

Vier von vier Punkten

Und ein Genuss wars. Es ist alles da, was ich von einem Krimi erwarte:

Natürlich ein interessanter Fall, der nach und nach aufgedröselt wird und bei dem nichts ist, wie es scheint.

  • Ein charismatischer Ermittler, der sich durch nichts von seiner Mission abbringen lässt, auch wenn ihn das persönlich einiges kostet, nicht nur den Beinahe-Tod in einem ostpreussischen Sumpf, sondern auch bezüglich des Privatlebens und die gerade anberaumte Verlobung. Zu den unvermeidlichen Schattenseiten zählen seine Untreue und seine problematische Beziehung zu Berlins Gangsterboss Johann Marlow, genannt Doktor Mabuse.
  • Interessante Nebenfiguren, die nicht immer das sind, was sie anfänglich scheinen – und solche, auf die der Held und wir Leserinnen und Leser bauen können.
  • Spannende und ungewöhnliche Details wie in diesem Fall das Nervengift Tubocurarin, das eine Art Markenzeichen des Täters zu sein scheint.
  • Und ein grösserer Rahmen, in dem die Geschichte stattfindet; die gesellschaftliche und politische Atmosphäre, die mehr oder weniger wichtig für die Handlung sein kann, aber für eine immer leicht angespannte Atmosphäre sorgt.

Das alles steckt in dem Buch, wobei der stärkste Aspekt und der Grund, weswegen die Verfilmung unvermeidlich war, natürlich die Atmosphäre ist: Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg und vor der Machtübernahme Hitlers. Die steht in «Die Akte Vaterland» kurz bevor: Der letzte Akt der Ermittlungen fällt auf den 31. Juli 1932 und die Reichstagswahl, aus der die NSDAP als stärkste Kraft hervorging.

Dass die Nazis Morgenluft wittern, ist auch in der Geschichte spürbar: Burschen der SA lungern immer mal wieder an Häuserecken, liefern sich Scharmützel mit den Kommunisten und lassen auch Gereon Rath wissen, was sich alles ändern wird, wenn Hitler erst einmal an der Macht ist. Was Rath angeht, ist das aber trotz allem kein grosses Problem:

Auch er mochte diesen selbst ernannten Führer Hitler nicht und seine SA-Rabauken noch weniger. Na und? Dann wählte man den Mann eben nicht, so einfach war das in einer Demokratie.

Dass es nicht ganz so einfach sein würde, wird in dieser Geschichte auch klar: Kurz vor der Wahl reagiert der Reichskanzler Franz von Papen auf die Strassenschlachten zwischen Nazis und Kommunisten, indem er die demokratische Regierung Preussens absetzt und auch die aus Demokraten bestehende Führung der Berliner Polizei gehen muss. Das ist eine der eindrücklichsten Szenen im Buch: Wie der Polizeichef Albert Grzesinski und der Polizeivizepräsident Bernhard Weiss aus dem Gebäude geführt werden, während die Polizisten lautstark ihre Solidarität bekunden – ausser Gereon Rath, der in Masuren feststeckt, einer Region Ostpreussens, die damals eine Exklave des Deutschen Reichs war.

Wikipedia in Griffnähe

Das beschreibt Volker Kutscher alles so sattelfest, dass ausser Frage steht, dass wir es hier mit einem Geschichts-Nerd zu tun haben, der sich tief in die Materie versenkt hat, dass nicht nur die politischen Zusammenhänge stimmen, sondern auch die Details zu Alltagsgegenständen, Kleidern und Frisuren, Zeitungen und Gewohnheiten der Menschen.

Zumindest entsteht bei mir, der ich mit der deutschen Geschichte nicht sonderlich gut vertraut bin, dieser Eindruck – und sowieso ist es eine gute Idee, parallel zum Buch auch Wikipedia offenzuhalten. Im Eintrag zum Buch Links zu den Hintergründen: Etwa zum Kempinski Haus Vaterland, einem grossen Vergnügungspalast am Potsdamer Platz, in dem die Geschichte ihren Anfang nimmt und wo Charlotte Ritter als Undercover-Agentin riesige Haufen von Zwiebeln kleinschneiden muss. Und wo sie Bayume Mohamed Husen trifft: einen Schwarzen, der ihr, der vermeintlichen Küchenhilfe, den Aufstieg zur Kellnerin schmackhaft machen will. Wikipedia verrät, dass Husen eine historische Figur ist. Solche Gelegenheiten, sich im Online-Lexikon zu verlieren, bietet «Die Akte Vaterland» zuhauf – auch bei Gereon Raths direktem Chef, Ernst Gennat.

Kein N-Wort, sondern Neger

Wenn ich eine Schwachstelle ausmachen müsste, dann wären es die Figuren – nicht, dass die nicht interessant wären. Es ist eher so, dass die Charakterisierung oft noch plastischer ausfallen könnte. Zum Beispiel Charlotte Ritter: Die bleibt unter ihren Möglichkeiten. Und ich bin mir nicht sicher, ob das Vokabular immer authentisch ist oder ob ab und zu ein modernes Wort in die Dialoge schlüpft. Ich finde jedoch ausgezeichnet, dass sich Volker Kutscher nicht um die heiklen Aspekte herumdrückt: Bayume Mohamed Husen wird im Buch ohne Verklausulierung Neger genannt und mit dem Alltagsrassismus der damaligen Zeit konfrontiert. Ich halte das für authentischer, als wenn sich der Autor um das N-Wort herumgedrückt hätte.

Das gilt genauso für den Alltags-Sexismus, den Charly Ritter immer wieder, aber vor allem von ihrem Kollegen Harald Dettmann erfährt. Bei dieser Affäre zeigt sich Volker Kutscher als Feminist, indem er seine Figur tapfer für die Gleichberechtigungen der Frauen im Polizeibetrieb kämpfen lässt. Fazit: eine grosse Empfehlung!

👉 Es gibt eine Fortsetzung dieser Rezension, die sich mit den restlichen Büchern der Reihe befasst: Neunzig Jahre in die Vergangenheit

Beitragsbild: Treffen wir uns hier auf ein Bier? (Das Erlebnisrestaurant «Haus Vaterland» am Potsdamer Platz; Bundesarchiv, Bild 102-13681/Wikimedia, CC BY-SA 3.0 DE)

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