Das war sicherlich anders geplant: 2023 würde das Jahr des Spatial Computings sein, hatte man sich bei Apple gedacht. Im Juni würde man der staunenden Weltöffentlichkeit die Vision Pro vorstellen.
Das sollte in mehrfacher Hinsicht ein grosser Moment sein: Erstens würde Apple endlich mit einem neuen Produkt herausrücken, an dem intern ohne Zweifel schon seit mehreren Jahren gearbeitet worden war. Zweitens würde der Konzern einen Coup wiederholen, der ihm zuvor mit dem iPhone, dem iPad und der Apple Watch gelungen war.
Der eigentliche Geniestreich sollte nicht in einer bahnbrechenden neuen Technologie bestehen: Denn alle diese Gerätekategorien hatten schon existiert, bevor Apple mit seinem smarten Telefon, seinem Tablet und seiner Computeruhr in den Markt eingetreten war. Das eigentliche Verdienst bestand darin, eine Erfindung aus der Nische zu holen und die Massen dafür zu begeistern. Die Computerbrille schien wie geschaffen, um dank Apples Schubkraft abzuheben. Die virtuelle Realität war seit Generationen ein Menschheitstraum, der bislang unerreichbar schien.
Die vermeintlich neue Ära für Mensch und Maschine
Doch nun würde Apple das ändern und – drittens – eine neue Art der Computerbedienung ermöglichen. Statt Maus, Tastatur oder auch Touchscreen würden wir mit unseren Händen in die Benutzeroberfläche greifen und dort mit virtuellen Objekten arbeiten. Das wäre ein riesiger Schritt für die Beziehung von Mensch und Maschine.
Meine Güte, war das eine Fehleinschätzung, und zwar gleich eine doppelte. Erstens hat Apple die Strahlkraft der Vision Pro überschätzt. Denn das Spatial Computing lässt sich meines Erachtens nicht theoretisch vermitteln. In der Beschreibung klingt vieles seltsam und sogar fragwürdig. Viele Fragen bleiben offen und die Leute (auch ich) arbeiten sich an Kleinigkeiten wie dem exorbitanten Preis von 3499 US-Dollar ab. Wenn man die Brille ausprobieren und in den virtuellen Raum abtauchen kann, dann wird vieles augenblicklich klar. Mir ging es so, als ich dieses Jahr kurz die Meta Quest 3 ausprobieren konnte.
KI? In Cupertino kein grosses Ding
Die zweite Fehlkalkulation lag in der Annahme, das Spatial Computing hätte auch nur den Hauch einer Chance gegen das Thema, das dieses Jahr alles überstrahlt hat. Die KI-Revolution hat uns in Atem gehalten. Und es zeigt sich, dass selbst Tech-Freaks sich nicht für mehrere Dinge gleichzeitig gleichermassen begeistern können.
Ja, Apple hat aufs falsche Pferd gesetzt und die Revolution im Bereich der künstlichen Intelligenz verschlafen. Das ist kein Drama. Der iPhone-Konzern kann, ungnädig formuliert, gut ausgeruht ins neue Jahr starten. Er ist gut gerüstet, im KI-Rennen mitzumischen. Die Apple-Hardware ist in der Lage, grosse Sprachmodelle lokal auszuführen und die Abhängigkeit von der Cloud zu verringern. Bei Windows sehe ich mit der Integration von Copilot in Windows ein riesiges Problem für die Privatsphäre. Falls Apple derlei Bedenken eine Lösung entgegensetzen kann, bei der das Sprachmodell auf der eigenen, lokalen Hardware läuft, wäre das ein enormer Wettbewerbsvorteil.
Rest in peace, Touchbar!
Abseits dieses Tummelfelds ist Apples Bilanz durchzogen. Mit dem iPhone 15 hat Apple ein solides Produkt abgeliefert – das ist unbestritten ein Pluspunkt. Doch weil dieses Jahr das letzte Macbook-Modell mit Touchbar aus dem Sortiment verschwunden ist, ruft das die Erinnerung an einen weiteren Missgriff wach. Ja, der ist schon 2016 passiert – aber ihn heute einfach unter den Teppich zu kehren, ist keine souveräne Fehlerkultur.
Was steht für 2024 an? Im Nerdfunk ist die Frage aufgetaucht, wer auf den Chefposten nachrücken soll. Tim Cook ist 63 Jahre, und auch wenn für Topmanager keine Notwendigkeit besteht, sich planmässig in den Ruhestand zurückzuziehen, so liegt die Frage trotzdem in der Luft. Ich glaube, frisches Blut täte dem Konzern gut – aber da Visionäre nicht wie Äpfel auf den Bäumen wachsen, halte ich eine interne Lösung für wahrscheinlicher.
Jetzt kommen die alternativen Stores
Auch spannend: Im März 2024 tritt der Digital Markets Act der EU in Kraft. Das wird einige Änderungen bringen. Apple wird im App-Store alternative Zahlungsanbieter akzeptieren müssen. Auch das Sideloading, d.h. die App-Installation am App-Store vorbei, ist eine Vorgabe des Gesetzes, die Apple wohl sosehr im eigenen Sinn auslegen wird, wie irgendwie möglich. Und iMessage muss mit anderen Messengern interoperieren. Erste Vorboten davon haben wir mit Apples Bekenntnis zu RCS bereits gesehen.
Beitragsbild: Ein Apple-Mitarbeiter, der heuer erholsam geschlafen hat (Microsoft Image Creator zum Prompt «A manager sleeping peacefully in a big and old fashionned bed, holding an apple in his hand. The surrounding of the bed looks modern and there is an Apple Computer standing on the nightstand»).