Ein erster Eindruck und viele Fragen zur Apple Vision Pro

Ein Mei­len­stein oder ein ge­wal­ti­ger Rohr­kre­pierer? Die Hür­den fürs Spa­tial com­puting sind riesig. Damit es zum Erfolg wird, muss Apple neue und un­ge­wöhn­liche Wege be­schrei­ten.

Es gab gestern eine Menge Spott für Apple auf Twitter, als der Konzern die Vision Pro vorgestellt hat. Das ist das erste Gerät in einer neuen Produktkategorie. Zum ersten Mal seit 2014 und der Apple Watch erhält Apples Gadget-Zoo Zuwachs durch eine neue Spezies. Ich habe mich während der Präsentation am Spott beteiligt, weil das Skibrillen-Design dafür jede Menge Anlass bot. Aber an dieser Stelle will ich ein differenzierteres Urteil fällen. Bevor ich zu dem komme, hier erst einmal ein Video, auf das ich ein paarmal Bezug nehmen werde:

Also, das Urteil: Ich halte das Produkt für valide, aber bei mir hat der Funke nicht gezündet. Mein erster Eindruck: Ich würde es gern ausprobieren, aber dass ich es mir so bald selbst kaufen werde, steht völlig ausser Frage. Mir fehlt die Lücke in meiner technischen Ausstattung, in die dieses Gerät stossen würde. Ich sehe im Werbevideo Menschen, die auf dem Sofa sitzen oder auf dem Bett liegen und sich Fotos und Videos ansehen. Ich fühle mich an die Lancierung des iPads zurückerinnert, wo ich mir die gleiche Frage gestellt habe: Gibt es eine Aufgabe in meinem Leben, die dieses Gerät erfüllen würde?

Beim iPad war die Antwort damals lange Zeit ein Nein. Irgendwann habe ich eines geschenkt bekommen. Es hat heute ein Plätzchen in unserem Haushalt; vor allem als Spiel- und Unterhaltungs-Gadget für unsere Tochter.

Die Vision Pro: ein besseres iPad?

Zum Start scheint die Vision Pro ein Gerät für den Medienkonsum zu sein, wie zu Beginn das iPad. Haben wir es also mit dem Tablet 2.0 zu tun? Könnte sein, dass die Brille das Tablet überflüssig macht. Zumindest, falls irgendwann der Preis von 3499 US-Dollar auf Salon-Tischchen-Niveau fällt.

Aber anscheinend ist da noch mehr. Apple erweckt diesen Eindruck, indem nach der Präsentation gestern der Begriff «Spatial computing» im Raum steht. Erfunden hat den nicht Apple, sondern gemäss Wikipdia ein Mann namens Simon Greenwold, der das in seiner Doktorarbeit als menschliche Interaktion mit einer Maschine definiert, «bei der die Maschine Bezüge zu realen Objekten und Räumen beibehält und manipuliert».

Eine neue Gerätekategorie, eine bisher nicht bekannte Form des Computings? Bricht hier eine neue Ära an?

Die fast schon sakrale Form der Inszenierung soll genau diesen Eindruck erwecken. Über den Pomp werde ich nachher noch schnöden, aber erst einmal halte ich in aller Nüchternheit fest, warum ich die Präsentation gestern überhaupt nicht als stimmig erlebt habe. Der Hauptgrund liegt im gigantischen Erklärungsbedarf. Das iPhone hat Steve Jobs 2007 der Welt auf eine unvergleichliche Art nähergebracht. Mir scheint, dass Apple diese Leistung noch immer zum Massstab nimmt und nicht nur imitieren, sondern übertrumpfen will.

Doch damals hat die Inszenierung perfekt zum Produkt gepasst. Die Zeit war reif und Jobs konnte mit dem Smartphone offene Türen einrennen. Das ist heute nicht der Fall. Die Vision Pro ist kein Produkt, das jeder haben will.

Ein Tässchen Tee mit Tim Cook

Im Gegenteil: Apple muss eine riesige Überzeugungsarbeit leisten. Ich glaube deswegen nicht, dass die altgediente Methode der Euphorisierung verfängt. Bei den Tech-Enthusiasten tut sie das natürlich, nicht jedoch bei der breiten Masse. Es wäre klüger gewesen, die Brille als das vorzustellen, was sie ist: Als erster öffentlich verfügbarer Prototyp für Entwickler und Interessierte, die sich nun überlegen müssen, was sie aus diesen tollen neuen Möglichkeiten tun. Ferner wäre es nicht verkehrt gewesen, wenn Tim Cook sich mit ein paar Journalisten zu einem Tässchen Tee oder Kaffee hingesetzt und niederschwellig über Apples Vision des «Spatial computings» diskutiert hätte.

Aber gut, das ist nicht Apples Art und wird es auch nie werden. Apple hat die Aufmerksamkeit geweckt, die Latte hochgelegt und muss jetzt schauen, wie es den gigantischen Erwartungen gerecht wird.

Und das wird nicht leicht werden. Damit diese Vision Pro nicht zu einem fundamentalen Rohrkrepierer wird, muss Apple Begeisterung ausserhalb der Tech-Bubble schaffen und zu diesem Zweck drei wesentliche Fragen beantworten:

1) Für wen ist die Brille?

Apple muss als Erstes einen Widerspruch klären: Ist dieses «Spatial computing» eine Vision für die breite Masse oder ist es als elitäre Nischen-Anwendung gedacht? Der Preis von 3499 US-Dollar schliesst von vornherein einen Grossteil der Menschen aus.

Kleine, polemische Zwischenbemerkung dazu: Mich hat die Präsentation auf seltsame Weise an die Live-Übertragung der Krönung von King Charles III erinnert. Zugegeben, die Brille sitzt etwas tiefer als eine Krone. Trotzdem konnte man den Eindruck gewinnen, dass die Vision Pro nicht als Produkt fürs Volk lanciert worden ist, sondern eine Art Tech-Aristokratie bedient, zu der nur die Leute Zugang haben, die es sich auch leisten können.

Und dann auch wieder nicht: Das besagte Werbevideo zeigt eine Frau bei ihrem Flug in der Economy-Klasse mit der Brille. Das lässt sich nur so deuten, dass Apple mit diesem Produkt in die Breite gehen will. Abgesehen davon hat Apple zwar immer darauf geschaut, dass die wohlsituierte Kundschaft auch die Möglichkeit bekommt, ausreichend viel Geld auszugeben. Aber es ging selten nur um den reinen Luxus, denn in allen Produktkategorien existieren auch günstige Einsteigermodelle.

2) Wie will Apple die gesellschaftlichen Widerstände überwinden?

Falls Apple den Massenmarkt anpeilt, braucht es eine gesellschaftliche Akzeptanz dieser Brillen. Wenn wir uns daran erinnern, wie erbittert der Widerstand gegenüber den Gesichtsmasken war und ist, sehe ich nicht, wie man sich Träger einer Vision Pro mit einem guten und sicheren Gefühl in die Öffentlichkeit wagen würde. Auch Google Glass hat heftige Abwehrreaktionen ausgelöst; Träger wurden körperlich angegriffen.

Vielleicht sieht Apple den Einsatz nur in sicheren Umgebungen wie Wohnzimmer und Büros vor. Aber an diesen Räumen gibt es längst so viele grosse Bildschirme, dass die Brille keinen wesentlichen Mehrwert bietet. Es liegt auf der Hand, dass die Brille sich eigentlich für Orte eignen würde, in denen wir unsere grossen Monitore und Fernseher nicht mitführen können: Im Zug, in der freien Natur, an Unis und Schulen, im Stadtpark, in öffentlichen Gebäuden oder wo auch immer.

Und eben: In denen begegnen wir wahrscheinlich Leuten, die uns als Bedrohung wahrnehmen. Denn die Vision Pro nimmt auch «dreidimensionale Fotos und Videos auf» (Pressemeldung). Damit ist sie für manche genauso eine Gefahr für die Privatsphäre wie seinerzeit Google Glass.

Gesellschaftlich akzeptiert? Oder wie einer auf Twitter schrieb: «Ich kann nicht erwarten, von dieser Dame hier gefeuert zu werden.»

3) Welchen Mehrwert bietet das «Spatial computing»?

Drittens und entscheidend: Apple darf nicht den iPad-Fehler wiederholen und die Frage offen lassen, was dieses neue Produkt so einzigartig macht. Das hat die WWDC-Keynote gestern nicht geleistet: Ich habe vor allem 2D-Fenster im Raum schweben sehen, die beim herkömmlichen Computing auf Bildschirmen angezeigt werden.

Aber was ist der Vorteil davon, sie vor dem Gesicht und nicht auf einem Bildschirm zu haben? Wie eben erwähnt, wäre die mobile Anwendung ein Szenario, das aber noch unwahrscheinlicher ist, weil wir per Sprache und mit Gesten mit der Brille interagieren und dadurch von unserer Umwelt als absonderlich, verrückt oder gefährlich wahrgenommen werden würden.

Als Argument bleibt die höhere Auflösung gegenüber klassischer Bildschirme und allenfalls grössere Bewegungsfreiheit. Damit sind wir aber wiederum am Punkt, wo die Brille als reines Luxusobjekt dasteht. Denn für die meisten Leute erfüllt der klassische Bildschirm den Zweck hervorragend.

Das Betriebssystem Vision OS: Wir sehen die Icons von all den Apps, die wir schon vom iPhone, iPad und Mac kennen.

Was mich angeht, besteht mein Job zu einem grossen Teil darin, auf einen blinkenden Cursor zu starren und mir zu überlegen, was ich als Nächstes tippen sollte. Es bringt mir nichts, wenn dieser Cursor nicht vor mir auf dem Bildschirm zu sehen ist, sondern vor mir im Raum schwebt. Denn auch wenn ich mehr Pixel und mehr Raum für Fenster und Informationen habe, bietet mir die Brille im Vergleich zu einem Computer, Tablet oder Smartphone weniger ausgeklügelte Steuerungsmöglichkeiten.

Falls ich das richtig verstanden habe, lassen sich mit der Brille Objekte per Augenkontakt fokussieren und per Gesten bewegen. Für Texteingaben braucht es die Sprache. Ich habe gestern die Vermutung ausgesprochen, dass die effizienteste Methode zur Interaktion mit einer Maschine Maus und Tastatur sind und bleiben. Daran ändert die Vision Pro nach dem jetztigen Stand der Kenntnis überhaupt nichts.

Prognose: Dieses Produkt wird es schwer haben

Damit sind wir am Punkt für ein erstes Fazit und für eine Prognose: Diese drei Herausforderungen wird Apple mit der gestrigen Nonchalance und mit dem klassischen Modus Operandi nicht bewältigen können. Damit die Vision Pro ein Erfolg wird, muss Apple neue Wege beschreiten:

  1. Erstens sollte Apple es ermöglichen, dass jeder, der nur ansatzweise Interesse zeigt, die Brille unkompliziert selbst ausprobieren kann. Denn aufgrund von Fotos und Werbevideos erschliesst sich einem einfach nicht, welche Funktion dieses Gadget für ihn spielen könnte. Ein paar Minuten in einem Apple Store sind dafür nicht ausreichend: Apple müsste ein, zwei Milliarden aufwerfen, damit jeder die Brille für fast kein Geld für ein paar Wochen zu Hause ausprobieren kann – auch wir Brillenträger¹.
  2. Zweitens braucht es Killer-Anwendungen; Applikationen, die nur im virtuellen Raum oder in der «mixed reality» funktionieren und so viel Faszination beinhalten, dass sich die Skeptiker überzeugen lassen. Und nein, einen Film auf einer virtuellen Leinwand ansehen zu können, zählt nicht als «Killer-App» – egal, wie gross diese virtuelle Leinwand auch ist. Apple muss alles tun, um die Entwicklergemeinschaft zu Höchstleistungen anzuspornen – egal, wie teuer das wird. Der geschlossene App-Store ist ein Hindernis. Es bräuchte vom Fleck weg eine Sideloading-Möglichkeit (Randbemerkung: Auch wegen Porno, was ein riesiger Treiber für diese Brille sein könnte und für den Erfolg wohl auch sein müsste.)
  3. Drittens muss Apple das Kunststück schaffen, die Vorbehalte abzubauen. Apple hat sich eine technische Lösung ausgedacht, indem die Augen des Trägers aussen auf der Brille zu sehen sind. Ob das natürlich oder gruselig wirkt, kann ich derzeit nicht beurteilen. Doch selbst wenn ersteres der Fall sein sollte, ist der Weg noch sehr lang, bis wir einen Mitmenschen mit einer solchen Brille in unserer Umgebung als völlig normal und alltäglich empfinden.

Fussnoten

1) In der Pressemeldung heisst es wie folgt: «Nutzer, die eine Sehkorrektur benötigen, verwenden Optical Inserts von Zeiss, um die visuelle Wiedergabetreue und die Genauigkeit der Augenbewegungen zu gewährleisten.»

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