Beitragsbild: Die ERMETH, die elektronische Rechenmaschine der ETH, im Technorama in Winterthur, fotografiert am 29.11.1990 (Zsolt Somorjai, ETH-Bibliothek Zürich, CC BY-SA 4.0)
Per Zufall bin ich bei meinen letzten zwei Archivrecherchen auf eine spannende Frage gestossen:
Hat die Schweiz die historische Chance verpasst, zu einer führenden Computernation zu werden?
Klar, die Frage ist hypothetischer Natur: Die Schweiz ist keine führende Softwarenation, und es lässt sich mit Fug und Recht argumentieren, dass unser Land zu klein ist, um mit den USA, China, Taiwan, Südkorea oder Indien mitzuhalten. Andererseits ist es in der Lage, riesige Investments zu stemmen.
Das Geld wäre vorhanden gewesen
Wir hatten im letzten Jahrhundert hinreichend Geld, um eine solche Entwicklung zu befeuern. Und wir waren in einer komfortablen Ausgangslage: Mit der ERMETH stand einer der ersten Computer Europas an der ETH in Zürich und wir besassen kluge Köpfe wie Niklaus Wirth. Aber irgendwie sprang der Funke nicht von der Forschung in die produktive Wirtschaft über.
Zwei Dinge hätte es gebraucht:
- Die Erkenntnis, dass sich hier etwas Entscheidendes tut.
- Und der Wille, vorn mitzumischen.
Es gab Leute, zu beidem entschlossen waren. Doch nur vereinzelt: Logitech-Gründer Daniel Borel stiess im März 1983 einen «cri d’alarme» aus, weil fast alle seiner Landsleute auf dem Schlauch standen. Auch in der Uhrenindustrie flackerte bisweilen die Erkenntnis auf, dass sich im Silicon Valley spannende Dinge tun. Doch unter dem Strich nahm man diese Computerei zu wenig ernst.
Das ist meine Arbeitshypothese, die ich überprüfen will. Vermutlich brauche ich mehrere Anläufe, aber für den Anfang gab ich maximal plump die drei Suchbegriffe schweiz führend software im elektronischen Zeitungsarchiv ein. Ich versuchte es auch mit computer und chip anstelle von software.
Technologieführerschaft war nie ein ernsthaftes Ziel
Es zeigt sich, dass es nur extrem wenige Artikel zu diesen drei Stichwörtern gibt. Ganze 29 sind es zwischen 1970 und 1999; und sie sind erstaunlich gleichmässig über die Jahre verteilt. Daraus lässt sich schliessen, dass sich keine Bewegung in diese Richtung manifestierte und der Bundesrat nie die Parole ausgab¹, das Land zu einer digitalen Hochburg zu machen.

Dafür begegnen wir – wieder einmal – einem alten Bekannten: der künstlichen Intelligenz. Am 16. April 1984 berichtete die NZZ über eine zweitägige Informationstagung am Gottlieb-Duttweiler-Institut zur KI. Als erstes erhalten wir eine Definition², dann werden einige Bereiche aufgezählt, in denen sie zum Einsatz kommen könnte: In der Sensortechnik soll der Tast- oder Sehvorgang des Menschen simuliert werden. Spracheingabe und -ausgabe machen die Maschine kommunikativer. Und zur damaligen Vorstellung über die künstliche Intelligenz gehören die Expertensysteme, die für medizinische Diagnosen bereits im Einsatz seien.
«Europa schläft noch»
Dann kommt ein Zwischentitel, wie er auch 2024 noch in der Zeitung hätte stehen können:
USA führend, Europa schläft noch
Die Entwicklung finde in den USA und auch in Japan statt, heisst es. In Europa dagegen nehme man die künstliche Intelligenz erst langsam zur Kenntnis. Die Europäischen Gemeinschaften (sic) hätten im Rahmen des «Esprit»-Programms (European Strategie Programm for Research and Development in Information Technology) Mittel bereitgestellt.
In der Schweiz dagegen sind noch kaum Aktivitäten in dieser Richtung auszumachen. Professor Zehnder von der ETH erwähnte allerdings, dass sich einige wenige Gruppen mit verwandten Gebieten beschäftigen, ohne diese aber mit dem Etikett künstliche Intelligenz zu versehen.
Die Tagung in Rüschlikon sollte zweifellos ein Bewusstsein für die Chancen schaffen:
Vom Referentenkreis her war es kaum überraschend, dass dem Versuch, Maschinen mit Intelligenz auszustatten, grosse Chancen eingeräumt werden.
KI gegen Bedenkenträger: 0:1
Warum ist nichts daraus geworden? Der letzte Abschnitt liefert eine so schlüssige Antwort, dass er es wert ist, in voller Länge zitiert zu werden:
Scheint die grundsätzliche Machbarkeit durchaus gegeben zu sein, so stellt sich aber noch die Frage nach der Wirtschaftlichkeit und vor allem auch jene nach der gesellschaftlichen Wünschbarkeit. Gerade letztere stand in Rüschlikon kaum im Zentrum des Interesses – kaum erstaunlich bei einer so jungen Disziplin. Immerhin wurden da und dort Problembereiche angetönt. Wegrationalisierung von Arbeitsplätzen (die völlig automatisierte Produktion rückt in Reichweite), die Überwachung intelligenter Maschinen durch den Menschen, die Gefahr der Verkümmerung menschlicher Fähigkeiten oder auch das Sicherheitsproblem gehören zu den Fragen, welche wohl überlegt sein müssen, wenn ein weiteres Gebiet menschlicher Errungenschaften nicht zu unerwünschten Nebeneffekten führen soll. Gedacht ist die Entwicklung künstlicher Intelligenz aber zu Nutz und Frommen des Menschen.
Uff!
Wenn wir uns von der antiquierten Redewendung am Ende nicht ablenken lassen, erhalten wir die Bestätigung, wie tief die Bedenkenträgerei gegenüber neuen Technologien in der Schweiz verwurzelt ist. Das ist auch heute noch so: Beim zwanzigjährigen Jubiläum des Schweizer Firmensitzes kämpfte Google fast schon verzweifelt gegen diese Haltung an.
Als Journalist bin ich beruflich Bedenkenträger: Ich lasse mich nicht von jeder Euphorie gleich anstecken und die Move fast and break things-Mentalität gewisser Leute ist mir suspekt. In dem Fall scheint die «gesellschaftliche Wünschbarkeit» aber ein Todschlagargument gewesen zu sein, das allen Gedanken über mögliche Chancen den Garaus gemacht hat.
Fussnoten
1) Am 21. Juli 1983 druckte die NZZ den Beitrag von Dr. Jürg B. Winter von der Gesellschaft schweizerischer EDV-Dienstleistungsuntemehmen und Software-Hersteller, der tatsächlich eine «schweizerische Software-Politik» forderte. Auch er kam zum Schluss, dass das Land hervorragende Voraussetzungen bietet:
Theoretisch bietet sich die Schweiz als idealer Standort für Standard-Software-Entwicklungen an. Wir verfügen über ein grosses Potential an gut ausgebildeten Technikern und Hochschulabsolventen, über eine langjährige Dienstleistungstradition sowie im internationalen Vergleich über eine überdurchschnittliche Qualitätstradition. Manche Schweizer Software-Analytiker und -Entwickler haben denn auch Systemlösungen hervorgebracht, die international als führend betrachtet werden und sich durch eine überdurchschnittliche Integration kennzeichnen. Diese Tatsache kommt den Schweizer Anwendern zugute, indem unsere zahlreichen Computer – die Schweiz verfügt über die höchste Computerdichte Europas – mit überaus anwendungsfreundlicher und leistungsfähiger Software gesteuert werden. 1982 wurde in der Schweiz Anwendungs-Software für etwa 800 Mio. Fr. entwickelt oder angeschafft.
Aber:
In der Schweiz besteht bis heute keine einheitliche Software-Politik. Dagegen gibt es eine Anzahl von privatwirtschaftlichen und öffentlichen, meist regionalen Initiativen, vor allem auf dem Bildungssektor (Software-Schule Schweiz, Wirtschaftsinformatikschule Schweiz).
Das erachtet Dr. Jürg B. Winter als zu wenig zielgerichtet:
Unter einer gesamtschweizerischen Software-Politik verstehen wir ein Konzept, das in Zusammenarbeit mit Wirtschaft und Staat entstehen sollte und welches klare Richtlinien in bezug auf die Gebiete der förderungswürdigen Software (Anwendungs-Software, CAD, CAM, Netzwerke, Standards usw.) aufstellt, die dafür möglichen Strukturhilfen umreisst und danach die Schwerpunkte der Bildungspolitik, Finanzierungs- und Förderungsmöglichkeiten sowie die Beschaffungspolitik festlegt. Es muss aber ein gesamtschweizerisches Konzept sein, damit der Nachteil unserer bescheidenen Grössen nicht zu stark ins Gewicht fällt.
Die Politik sollte etwas tun und den Medien wäre die Aufgabe zugefallen, «Aufklärung über das Potenzial und die Zukunftsaussichten der Software ‹made in Switzerland›» zu leisten. Und was den letzten Satz angeht: Nun, genauso ist es gekommen:
Es wäre schade, wenn die Gelegenheit zur Schaffung einer lebensfähigen Schweizer Software-Entwicklungsindustrie verpasst würde. Neben wirtschaftlichen Einbussen würde dies auch eine vermehrte Abhängigkeit vom Ausland in einem weiteren Gebiet der Spitzentechnologie mit sich bringen. ↩
2) So erklärte die NZZ den Leserinnen und Lesern damals die KI:
Zwar verfügen bereits die heutigen Computer über erhebliche informationsverarbeitende Fähigkeiten. Die von ihnen gelösten Probleme sind jedoch meist klar strukturiert, mathematisch erfassbar und repetitiver Natur. Computer der fünften Generation sollen dagegen mit ihrer künstlichen Intelligenz sowohl numerische Daten als auch qualitative Regeln aus dem Erfahrungswissen des Menschen zu Erkenntnissen kombinieren können, welche bisher menschlichem Geist vorbehalten waren. ↩