«Endlich ein einfacher Fall!» dachte ich, als ich mich an diese Archivrecherche machte. Ich wollte herausfinden, wann das Silicon Valley zum ersten Mal in den Schweizer Medien auftauchte. Waren die Zeitungen auf Zack – oder haben sie eine wichtige Entwicklung verschlafen?
Um das zu beurteilen, müssen wir wissen, wann sich der Begriff etablierte. Der Google Books Ngram Viewer liefert eine klare Antwort: Ab 1968 tauchte er in Büchern auf¹. Das entspricht den Erwartungen, weil in den 1960er- und 1970er Jahren sich in dieser Region in der Bay Area von San Francisco immer mehr Unternehmen ansiedelten, die etwas mit Computern zu tun hatten. Allerdings gehört auch zur Geschichte, dass die wirtschaftliche Entwicklung dort schon früher begann: Hewlett-Packard entstand 1939 in einer Garage in Palo Alto. HP markiert in gewisser Weise den Geburtsort des Silicon Valley, auch wenn eine Werkstatt alleine noch keinen Technologiestandort begründet. Ein weiterer Meilenstein war der Stanford Industrial Park 1951.

Er war mit ein Grund, dass sich dort so viele Technologiefirmen niedergelassen haben: Es gab dort nicht nur die Universität von Stanford, sondern auch die UC Berkeley. Es gab auch militärische Forschung, Risikokapital, relativ wenig Regulierung und ein Klima, das viele der Nerds damals offensichtlich als angenehm empfanden. Ausserdem war die Bay Area auch das Epizentrum der Hippie-Kultur. Wie sich an Steve Jobs erkennen lässt, hatten die Vertreter dieser Gegenkultur und die Tech-Utopisten viele Berührungspunkte – auch wenn das aus heutiger Sicht kaum mehr zu glauben ist, weil sich die letzten Reste von Idealismus spätestens 2024 in Luft aufgelöst haben.
Die Romands hatten das Silicon Valley zuerst auf dem Schirm – aus gutem Grund
Also, eine einfache Nachforschung: Es gibt mit «Silicon Valley» einen klaren Suchbegriff – anders als in vielen anderen Fällen, bei denen zuerst zu klären ist, wie die Zeitungsredaktoren das damals genannt haben könnten: Heimcomputer oder PC, E-Mail oder elektronische Post, Steve Jobs oder Steven Jobs, Internet oder Internetwork? Es ist oft verzwickt.
Und eine Nachforschung mit einem überraschenden Treffer: Das Silicon Valley hatte seinen ersten Auftritt in einer Schweizer Zeitung am 28. November 1974. Das ist nicht avantgardistisch, aber auch nicht so spät wie bei anderen Neuerungen aus dem Computerbereich.
Das Lob dafür gebührt den Westschweizer Medien. Fast alle Artikel aus den 1970er-Jahren stammen aus der Romandie. Die Deutschschweiz wurde erst 1978 über das Siliziumtal aufgeklärt². Das kommt nicht von Ungefähr. Die Erklärung liegt mit der Uhrenindustrie eigentlich auf der Hand: Die mechanischen Uhren bekamen damals elektronische Konkurrenz. Da Wissen über diesen technologischen Bereich in der Schweiz nicht so stark vorhanden war wie in den USA und mutmasslich in Japan, drängte sich der Blick in diese Länder auf.
Zurück zum ersten Artikel, der sich mit dem Silicon Valley befasste. Bei dem verblüfft der Titel: Ein Ziel: Die «elektronische Unabhängigkeit», schrieb die Zeitung FAN – L’express damals. Mein erster Gedanke: Hätten wir bloss darauf gehört, dann müssten wir uns heute nicht davor fürchten, dass uns die Trump-Regierung und die Tech-Moguln mit unserer Abhängigkeit erpressen.
Aus dem Wilden Westen in die Garage
Der Artikel selbst ist weniger visionär, sondern … seltsam. Doch der Einstieg ist nicht nur cineastisch, sondern geradezu spektakulär:
Als die Wohnwagen durch das Silicon Valley zogen, schenkte ihnen kaum jemand Beachtung. Als Zelte im Süden von San Francisco und im «östlichen Korridor» aufgestellt wurden, glaubte man, einige Bellen zu hören. Doch die Zeit vergeht, die Dinge verändern sich, ordnen sich neu – und die Augen öffnen sich. Die amerikanische Elektronik hatte zumindest einen Verdienst: viele Vorurteile zu überwinden …
Eine solche szenische Schilderung weckt Erwartungen! Eine Reportage, die den Bogen vom Oregon Trail direkt zu den staubigen Garagen schlägt, in denen Weltgeschichte geschrieben wird! Womöglich sass der Journalist schon in der Garage, in der zwei Jahre später Steve Wozniak, Steve Jobs und Ron Wayne Apple gründen würden?
Die Leute in der Uhrenindustrie hatten den richtigen Riecher
Nein, leider nicht. Im weiteren Verlauf geht es um den Schweizer Uhrenkonzern ASUAG, der sich über die elektronischen Uhren den Kopf zerbrach. Und was Herr Obrecht angeht: Gemeint ist wahrscheinlich Karl Obrecht, der auch für die FDP im Nationalrat sass.
Ohne zu erröten, gestand Herr Obrecht, dass die in der Schweiz entwickelte elektronische Uhr an einem entscheidenden Mangel leidet: Noch heute müssen wichtige Komponenten wie integrierte Schaltkreise und Anzeigeeinheiten im Ausland eingekauft werden. Eine Unabhängigkeit, wie sie bei der mechanischen Uhr erreicht wurde, ist daher unumgänglich.
Wir stellen fest, dass die Berichterstattung von «FAN» dem bombastischen ersten Absatz nicht gerecht wird. Doch steckt in diesem Text visionäre Weisheit. Es wird diskutiert, was es gebraucht hätte, um die Schweiz zur führenden Elektroniknation zu machen. Das hätte unsere Ausgangslage in der digitalen Welt verbessert, zumal es auch bei der Computerentwicklung Leute gab, die die Zeichen der Zeit früh erkannten. Was wäre möglich gewesen, wenn Herrn Obrechts Erkenntnisse nicht bloss für die Uhrenindustrie, sondern universell erhört worden wären³!
Fussnoten
1) Die kleinen Anstiege um 1900 und 1930 dürfen wir ignorieren, weil der Begriff in diesen beiden Fällen kaum in der heutigen Bedeutung verwendet wurde. ↩
2) «Der Bund» schrieb am 20. September 1978 Folgendes:
Heute so betonen die Verfasser sei «das freie Spiel der Marktkräfte von Grund auf gestört» entsprechend habe der Staat einzugreifen und auch der Schweizer Wirtschaft faire Wettbewerbschancen zu ermöglichen. Als wichtigsten Ansatzpunkt wird die Forschung betont – beispielhaft seien etwa der industrielle Aufschwung der «128th Street» in Boston oder des «Silicon Valley» in Kalifornien, beides heute führende Industriestandorte der USA, die auf gezielte staatlich geförderte Forschung am Massachusetts Institut of Technology im ersten Falle, resp. die Stanfords University zurückgehen. ↩
3) «FAN – L’express» warf am 20. September 1978 die Frage auf, ob der Jura zu einem Schweizer Silicon Valley gemacht werden könne; geschrieben übrigens vom gleichen Journalisten (Kürzel Cl.-P. Ch.):
Noch weit entfernt ist also jenes gestern skizzierte Klischee eines amerikanisierten Daniel Jeanrichard, der seinen Vornamen gegen «John» eintauscht, vom MIT kommt und die vom Franken geschwächte Uhren-Schweiz rettet. Ist es realistisch zu hoffen, aus dem Jura eine neue «Silicon Valley» zu machen? Theoretisch steht dem nichts entgegen – die Schweiz der Uhren und der Mikrotechnik könnte durchaus ein zweites Kalifornien werden. Das ist nicht unmöglich – Ebauches S.A. hat das vor nicht allzu langer Zeit bewiesen. Aber wie soll man mit dem Meister mithalten, wenn so viele Hindernisse bestehen bleiben: der Konformismus der einen, die Mentalität der anderen – und ein Franken, der jeden Veränderungswillen im Keim erstickt hat? ↩
Die Zeitung «L’impartial» veröffentlichte am 20. September 1978 ebenfalls einen Artikel, der auf das Silicon Valley Bezug nahm. Dank dieser Referenz wissen wir, wie die Presse in der Romandie auf den Trichter kam. Es waren die Leute in der Uhrenindustrie, die die Entwicklung in Kalifornien beobachteten:
Die riesige industrielle Kapazität, die die Schweizer Uhrenindustrie darstellt, muss umgewandelt werden, damit sie sich neu entfalten kann – das ist das Ziel der Diversifikation, die derzeit in der gesamten Uhrenregion in grossem Stil unternommen wird. Warum diese Umstellung? Weil sich der Wettbewerb in der Uhrenbranche auf internationaler Ebene abspielt, unter regional höchst unterschiedlichen Bedingungen im globalen Sinne: Bei gleicher Geschicklichkeit kostet ein Paar Hände in Südostasien drei Franken pro Tag, in der Schweiz hingegen zehn Franken pro Stunde. (…)
Beitragsbild: Palo Alto. Was soll man hier denn anderes tun, als in der Garage ein Unternehmen zu starten? Durch eine investigative Recherche auf Google Maps – die mich viel zu viel Zeit gekostet hat – konnte ich den Aufnahmeort dieses Bildes rekonstruieren: Die Sand Hill Road überquert den Junipero Serra Freeway, links ist der Sharon Heights Golf and Country Club, etwas weiter hinten Sequoia Capital mit dem West Menlo Park. Rechts finden wir u.a. Andreessen Horowitz (ahsing888, Pixabay-Lizenz).