Beitragsbild: Der Fotoman von Logitech gilt als eine der ersten Digitalkameras überhaupt (The National Media Museum, Bradford, CC BY-NC-SA 4.0).
Wann ging es mit der Digitalfotografie richtig los? Für mich 1997: In dem Jahr hatte ich zum ersten Mal eine Kamera in den Händen, die Bilder nicht per Film, sondern über einen Sensor einfängt. Das war damals ein Testgerät. Zu meiner ersten eigenen Digicam, der Nikon Coolpix 995, kam ich 2001.
Hier geht es darum, wann die Schweizer Bevölkerung zum ersten Mal mit dieser technischen Neuerung in Berührung kam. Das passierte gemäss der Schweizer Mediendatenbank sechs Jahre früher, am 21. Juni 1991. «Cash» berichtete über ein Unternehmen aus dem Waadtland, das sich bis heute als die bekannteste Schweizer Marke im Computerbereich hält¹. Es begann mit der Produktion von Mäusen, doch Anfang der 1990er-Jahre expandierte es in diverse andere Sparten:
[Trotz des Potenzials] will sich der Marktleader nicht auf die Mäuse-Monokultur verlassen. Auch nicht auf die erst vor kurzem eingeführten Derivate, den drahtlosen Mouseman, den daumengesteuerten Trackman und den Handscanner Scanman, die bereits 24 Prozent zum Umsatz beitragen. «Wir träumen», sagt Pierluigi Zappacosta, Verwaltungsrat und Verantwortlicher für das USA-Geschäft. Borel: «Die Maus ist nur eine Etappe im Traum von Logitech und nur Prähistorie in der Geschichte der Computersinne.» Die Maus sei die Hand des PCs, der Scanner das Auge mit zweidimensionaler Wahrnehmung.
Und nun eben ein weiteres Gerät, das gemäss dem Artikel den «geträumten Schritt in die dritte Dimension» bringen sollte: Wie das gemeint ist, geht aus dem Artikel nicht hervor. Auch sonst gibt es schräge Formulierungen wie den Titel («Die Maus lernt sehen»), die mich an der Kompetenz des «Cash»-Journalisten haben zweifeln lassen. Obwohl es sich um einen Mann handelt, der mit der Materie vertraut ist: Bänz Lüthi war nämlich der erste Chefredaktor der 1985 gegründeten Computerzeitschrift «Computerworld».
Eine halbe Stunde, um die Bilder zu übertragen
Das neue Produkt führte er so ein:
Am Mittwoch bekamen die Aktionäre an der GV die jüngste Logitech-Innovation als erste zu Gesicht: eine Kamera, den Produkten der Optikbranche nachempfunden, die digitale Bilder aufzeichnet. Nicht auf Film und nicht auf Diskette: Chips werden die Informationen enthalten und sie direkt an den PC zur Verarbeitung weitergeben können.
Damals hatte das Produkt noch keinen Namen. Heute wissen wir, dass es als Fotoman FM-1 auf den Markt kommen sollte. Ich erinnere mich, dass dieses Gerät hierzulande in fast jedem Elektronikgeschäft bestaunt werden konnte. Ich habe die kleine Kamera mit dem langen Griff noch gut vor Augen. Sie hatte zwar einen futuristischen Reiz, sah für mich aber zu sehr nach Spielzeug aus.
Aus heutiger Sicht war sie das auch: 376 × 240 Pixel Auflösung sind ein Bruchteil von dem, was heute jede App in ihrem Icon auf dem Homescreen des Smartphones anzeigt, und obendrein waren die Bilder in Graustufe. Weitere gruselige Details zur Umständlichkeit der Anwendung verrät das Digicammuseum:
Da die Kamera keinerlei Anzeigen hat, wird man über das Bildresultat erst beim Herunterladen der Bilder auf einen PC informiert. Die Kamera verlangt dabei eine Hardwareausstattung, die heute nur noch für Schmunzeln sorgt: Es wird Windows 3.0 verlangt, ansonsten tut’s aber ein 286er-Prozessor, eine Hercules-Grafikkarte (schwarz-weiss, meist in Kombination mit einem Grünmonitor) und 1 MB RAM. Die Software bescheidet sich mit einem Megabyte auf der Festplatte – den Platz für die Bilder allerdings noch nicht eingerechnet.
Je nach PC-Ausstattung schleichen die Bilddaten unterschiedlich schnell über das serielle Kabel. Die Anleitung nennt für die Übertragung von 32 Bildern (mehr passen nicht in den Kameraspeicher) eine halbe Stunde bei einem 386er-PC als normal. Bei langsamerer Hardware dauert es entsprechend länger.
«Das Foto trennt sich vom Film»
Gadgettests im heutigen Sinn waren damals nicht etabliert. «L’impartial» veröffentlichte am 18. September 1991 aber eine Kurzvorstellung. Und die beseitigt auch die Verwirrung, die der «Cash»-Artikel mit seinen Andeutungen zur dritten Dimension stiftete:
Mithilfe einer einfachen seriellen Schnittstelle und der Bildbearbeitungssoftware Fototouch können die digitalisierten Bilder auf einem PC ausgedruckt werden. Ein grosser Vorteil des Fotoman ist, dass er auch als 3D-Scanner fungieren kann und so den Bildern mehr Tiefe verleiht.
Zu dieser Funktion fand ich leider keine Details; auch nicht in der ausführlicheren Beschreibung von «FAN – L’express» vom 12. Dezember 1991 oder im Bericht von «La liberté» vom 22. April 1992.
Doch dieser Text kommt einer ordentlichen Besprechung nahe. Der (leider nicht namentlich genannte) Autor hatte sogar die Idee, ein Beispiel abzudrucken: Er stellt eine digitale Aufnahme des Fotoman einem auf herkömmlichem Rollfilm entstandenen Foto gegenüber, wobei die Unterschiede im Zeitungsdruck nicht zur Geltung kommen.

Das Fazit lautete wie folgt:
Der Fotoman ist ein Erstlingswerk, so wie die Taschenrechner der 70er-Jahre nur ein Einstieg in die Welt des elektronischen Rechnens waren. Für Berufe, in denen die schnelle Integration von Fotodokumenten wie Katalogen, Bedienungsanleitungen oder Protokollen erforderlich ist, wird sich der Preis des Fotoman (Fr. 1400.–) schnell amortisieren.
Wir kommen zum Schluss, dass die Schweizer Presse bei der Digitalfotografie auf Draht war – ganz anders als bei vielen anderen Tech-Themen. Allerdings ist es auch bei diesem Thema annähernd unmöglich, den Zeitpunkt des «Urknalls» zu bestimmen. Das führt die Geschichte der Digitalkamera und der digitalen Bildaufzeichnung des Digicammuseums vor Augen: Es gab schon viel früher Versuche, Bilder nicht chemisch, sondern elektronisch festzuhalten. Doch die fanden unter Bezeichnungen wie Elektrophotographie, Photodielektrische Bandkameras und Scanistor statt und müssten historisch aufgearbeitet werden. Wenn wir die moderne Digitalfotografie unter den geläufigen Begriffen aufrollen, zeigt der Google Books Ngram Viewer unmissverständlich, dass sich der Begriff «Digitalkamera» in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre verfestigte.
Warum hatten die hiesigen Medien für einmal die Nase vorn?
Das liegt natürlich an dem Schweizer Unternehmen, von dem hier die Rede ist. Ich bin mir sicher, dass ihr längst erraten habt, um welches es sich handelt. Natürlich um Logitech; gegründet von Daniel Borel, den Roger Zedi und ich 2002 zum Interview getroffen haben.
Beide – Borel und Logitech – wurden gemäss den elektronischen Archiven zum ersten Mal am 9. März 1983 in «Construire» erwähnt; dem Pendant der Migros-Zeitung «Wir Brückenbauer» für die Westschweiz. Und das gibt mir Gelegenheit für einen spannenden Exkurs.
Exkurs: «Das Schiff hat abgelegt – aber wir können es noch einholen!»
Denn dieser Artikel hat es in sich. Er trägt den Titel «Ein Aufschrei» (Un cri d’alarme), dem er in jeder Hinsicht gerecht wird:
«Das Schiff ist zwar noch nicht allzu weit vom Ufer entfernt, und vielleicht haben wir noch eine Chance, es einzuholen und uns einen Platz darin zu sichern», seufzt unser Gesprächspartner, ohne anscheinend allzu sehr daran zu glauben. Dabei hat die Schweiz im Bereich Elektronik und Informatik durchaus Trümpfe in der Hand, die sie nicht ausspielen will oder kann. War es nicht ein Schweizer, Professor Niklaus Wirth von der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich, der 1970 das Softwaresystem Pascal entwickelte, das ein weltweiter Erfolg wurde, sobald die USA es für sich beanspruchten?
Der Gesprächspartner ist Daniel Borel, von Haus aus Physiker, und er ist «ungeduldig angesichts der Trägheit der Schweiz im Bereich der Elektronik und insbesondere der Informatik»:
Die Informatiker der ETH Zürich sind weltberühmt, aber für die Schweizer Industrie gab es kaum Spin-offs. «Das ist typisch für die Schweiz. Seit den Siebzigerjahren bringt sie gute Physiker hervor, aber gelangen zu spät auf den Arbeitsmarkt. Heute ist man bei der Informatik wieder zu spät dran. Die ersten «echten» Informatiker, die unsere Hochschulen absolvieren, werden erst in zwei Jahren einsatzbereit sein. Bis dahin wird es aber die Schweizer Häuser, die sie produktiv und effektiv einsetzen könnten, nicht mehr geben. Sie werden bei IBM arbeiten – oder in einem neuen Unternehmen.
Ein wirklich lesenswerter Rundumschlag, den ich am liebsten ganz zitieren würde. Denn 1983 war das Jahr, als die Tech-Monster von heute bereits gegründet worden waren, aber noch einholbar gewesen wären. Hat Borel damals ins Schwarze getroffen?
Hausaufgaben für euch!
Diese Frage gebe ich euch als Hausaufgabe auf: Überlegt euch, ob er bei der folgenden Tirade ein paar Details übersehen hat. Immerhin gründete Nicolas Hayek mit Swatch ein innovatives Unternehmen, das zwar nicht Hightech produzierte, aber auf der Höhe des Zeitgeistes war. Er tat das just in der Zeit, als der Logitech-Chef dem Reporter von «Construire» Folgendes in den Notizblock diktierte:
Heute versinken die Schweizer Uhrenfirmen in Abgründen. Sie können vielleicht mit Millionen gerettet werden, aber ausserhalb ihres traditionellen Geschäftsfeldes werden sie nichts Neues mehr schaffen. Inzwischen hat der japanische Uhrenhersteller Seiko zwar genauso viele Schwierigkeiten mit seinen Uhren, aber in zwei Jahren wird die Hälfte seines Umsatzes aus dem Verkauf von Mikrocomputern stammen: «Bei uns hat man zwar das Wissen», bemerkt Daniel Borel, «aber man hat keinen Geschmack mehr für Risiko, Innovation und Arbeit.»
Falls ihr nicht widersprecht, ist das Fazit bitter: Für einmal haben die Schweizer Medien nicht gepennt. Doch die Schweiz als Innovationsstandort muss sich «en tüüfe, gsunde Schlaf» im völlig falschen Moment vorwerfen lassen. Diesem Aspekt gehe ich vertieft in den nächsten beiden Folgen der Tech-Premieren nach.
Fussnoten
1) Auch wenn Logitech heute international aufgestellt ist, den operativen Hauptsitz im Silicon Valley hat und in China produziert, bleibt dieses Unternehmen in der hiesigen Wahrnehmung ein nationales Eigentum. ↩