Der grosse Social-Media-Irrtum

Die so­zia­len Medien wurden schon in den 1990er-Jahren er­funden. Die dazu pas­sen­de Be­zeich­nung brauchte für den Durch­bruch mehr als ein Jahr­zehnt länger.

Wann tauchte ein Begriff, eine Idee, eine technische Erfindung zum ersten Mal in der Öffentlichkeit auf? Dieser Frage gehe ich in der Rubrik der Tech-Premieren nach.

Bei konkreten Dingen ist die Sache einfach: Es gibt einen Zeitpunkt, an dem sie erfunden, patentiert und in den Handel gelangten oder auf andere Weise verfügbar gemacht wurden; zum Beispiel fürs Militär oder die Wissenschaft. Natürlich bedeutet das nicht, dass die Menschheit immer sogleich Notiz genommen hat. Das Interesse, eine Neuerung publik zu machen, ist nicht in allen Fällen vorhanden; Dinge wie eine Atombombe entwickelt man lieber im Geheimen. Auch die Medien brauchen manchmal Zeit, um die Bedeutung einer Innovation zu erkennen.

Die Archivrecherchen zeigen die Reaktionszeit auf, die es jeweils brauchte, bis das Wissen um eine solche Errungenschaft durchsickerte¹. Und sie bringen ans Licht, welche Einschätzungen anfänglich vorherrschten: Wie würde eine Erfindung oder Entdeckung das Leben, die Wirtschaft, die Gesellschaft verändern? Die Erkenntnis ist in jedem einzelnen Fall, dass es niemand im Vornherein gewusst hat. Diese Unberechenbarkeit scheint eine inhärente Eigenheit von Innovation zu sein.

Sprachlich alles andere als zwingend

Bei eher abstrakten Begriffen können wir bei der zeitlichen Einordnung auch völlig danebenliegen.

Ich machte diese Erfahrung, als ich den sozialen Medien hinterhergeforscht habe. Dieser Begriff, so hätte ich schwören können, war spätestens 2005 im alltäglichen Gebrauch. Twitter wurde zwar erst 2006 gegründet, Facebook ging aber schon im Februar 2004 online. Myspace gab es sogar schon 2003. Wenn wir uns die Timeline of social media auf Wikipedia ansehen, reicht die mit den Vorläufern bis in die 1970er-Jahre zurück. Als erste Social-Media-Plattform im eigentlichen Sinn wird Stajlplejs (Lunarstorm) von 1996 genannt; zumindest von deren Schöpfer Rickard Eriksson.

Doch zu meiner Überraschung etablierte sich der Begriff erst gegen Ende des Jahrzehnts. 2007 findet er erstmals in den Berichten von Nachrichtenagenturen. Ich habe ihn in Englisch zum ersten Mal im Juli 2011 benutzt – und in Deutsch nicht als «soziale Medien», sondern als «soziale Netzwerke» übersetzt.

Das bringt uns zur interessanten Erkenntnis, dass es plus/minus ein Jahrzehnt gedauert hat, bis sich ein Begriff für dieses Phänomen etablieren konnte, das wir heute so selbstverständlich als «soziale Medien» bezeichnen. Der Google Books bestätigt diesen Befund: Dort steigt der Graf ab 2005 an, ist aber auch 2010 noch auf einem sehr tiefen Niveau. Es gibt niemanden, der sich als Schöpfer dieses Begriffs bezeichnen könnte. Es entstand einfach eine Art Konsens darüber, dass er einigermassen passt. Und die Social-Media-Unternehmen dürften ihn dafür geschätzt haben, dass «soziale Medien» nach einer Verbesserung der herkömmlichen Medien klingen, die nach der Definition nicht sozial sind.

Erst 2008? Ist das menschenmöglich?

Aber nun zur Frage, welches Schweizer Medium als erstes über die sozialen Medien im heutigen Sinn berichtet hat. Falls ich nichts übersehen habe, wird diese Ehre dem «Bieler Tagblatt» zuteil. Es hat am 23. Oktober 2008 im Artikel «Erfolgreiche Kommunikationstage» von einer Studie geschrieben, in der «auch die sozialen Medien, wie Facebook oder Youtube, sowie medienverwandte Aktivitäten wie SMSen, Chatten oder Gamen» eingezogen worden seien. Fanfare!

Zwei Beobachtungen dazu:

Der Begriff in einem anderen als dem heutigen Sinn ist schon früher aufzufinden. Zuerst bezeichnete er die Blogs. Sie zählen nach heutiger Definition nicht zu den sozialen Medien. Zwei Beispiele dafür:

Hrtoday.ch am 1. Juni 2008 im Artikel «Recruiting – Suchen und Finden im Web 2.0»

Aus diesem Grund ist es für die rekrutierenden Firmen wichtig zu wissen, was über sie in externen Blogs geschrieben wird – ein professionelles Monitoring von sozialen Medien drängt sich an dieser Stelle nahezu auf.

«Link» am 1. Februar 2007 im Beitrag «Kontakte zu den Hörerinnen und Hörern – Begegnung oder Blablabla?»

Bisher war das Internet vor allem ein Informations- und damit ein Einwegmedium», stellt DRS-2-Programmreferent Thomas Weibel fest. «Nicht zuletzt dank technischer Neuerungen wird es zum sozialen Medium.» Weibel hat auf http://blog.drs2.ch einen Wissensblog eröffnet, in dem sich alle wissbegierigen Web-User aktiv beteiligen können

Auch vorher begegnen wir dem Begriff der sozialen Medien sporadisch. Er wird jeweils als ad-hoc-Wortschöpfung gebraucht und bezeichnet sehr unterschiedliche Dinge. Das belegt diese Liste mit einigen Archivfunden:

«St. Galler Tagblatt» vom 20. Oktober 2005 im Beitrag «Chöre singen zur Sauserzeit»

Am 126. Sauser-Rendez-Vous vor fünf Jahren in Thal sagte der damalige OK-Präsident Robert Sommer unter anderem: «Musik und Gesang machen klug, führen Menschen zueinander, sind ein soziales Medium und gehen am tiefsten ins Herz.» Nun ist es wieder der Thaler Männerchor, der im untersten Rheintaler Rebendorf das Sauser-Treffen organisieren darf.

«Radio Magazin» vom 18. Mai 2002 im Beitrag «Die Deklination der Floskeln» über ein Hörspiel

Sterchi persönlich mag das Handy wohl nicht sehr, wenn diesem Stück zu trauen ist. Doch als sprachlich-soziales Medium weckt es sein Interesse. Hinzu kommt, dass die belanglose Handy-Kommunikation seinen Vorlieben der letzten Jahre sehr entgegenkommt.

«Neue Zürcher Zeitung» vom 12. Oktober 1999 im Beitrag «Im Reigen seliger Geister» zu Jeffrey B. Russells «Geschichte des Himmels»

Die Freude überdeckt alle Unterschiede, das Glück umhüllt alle Guten im Bund der Communitas. Nicht Macht, Vertrauen, Sprache oder Geld sind die sozialen Medien der Himmelsgesellschaft, sondern Liebe.

«Bilanz» vom 1. November 1998 im Beitrag «Schöne neue virtuelle Welt», geschrieben von Microsoft-Chef Bill Gates

HutchWorld …

Was ist das? Wikipedia erklärt in einer Fussnote: «HutchWorld: klinische Studie über computervermittelte soziale Unterstützung für Krebspatienten und ihre Betreuer.»

… hat einen Portier, der Fragen beantwortet, ein Anschlagbrett, wo Mitglieder der Gemeinschaft Botschaften hinterlassen können, und sogar einen Ort, wo Geschenke hinterlegt werden können, wie imaginäre Blumen oder Süssigkeiten – denn es ist ja der Gedanke, der zählt. Diese Art von Versuchen werden gemacht, und schon bevor die Ergebnisse bekannt sind, habe ich keinen Zweifel am Nutzen des Internets. Es ist ein soziales Medium wie das Telefon. Es wird der realen Welt verbesserte Kommunikationsformen – einschliesslich virtueller Welten – anbieten können.»

Diese Art von Versuchen werden gemacht, und schon bevor die Ergebnisse bekannt sind, habe ich keinen Zweifel am Nutzen des Internet. Es ist ein soziales Medium, wie das Telefon.

«Die Weltwoche» am 4. Juni 1980 im Beitrag «Alles nicht so schlimm»

Die Kinder stellen sich ihr Fernsehprogramm bewusst zusammen, benutzen das Fernsehen als «soziales Medium» (denn sie sehen meist gemeinsam mit anderen fern), und die Eltern sind dem Fernsehen gegenüber kritisch eingestellt und haben ihre genauen Prinzipien, nach denen sie die Kinder fernsehen lassen.

Fussnoten

1) In vielen Fällen begegnet uns der Begriff schon in den Archiven, bevor die dazugehörige Erfindung gemacht worden ist. Das ist entweder Zufall, oder es liegt daran, dass ein bestehendes Wort durch die Innovation eine neue Bedeutung erhält. Es gibt indes einige Fälle, in denen bestimmte Innovationen ihre Schatten vorauswerfen. Drei Beispiele bespreche ich im Beitrag Drei verrückte Techvisionen aus der Schweiz. Sie beziehen sich auf die Blogposts Als die Rätormanen 1863 «s’internet» erfanden, Wie das Smartphone (fast) in der Schweiz seine Weltpremiere hatte und Drei verrückte Techvisionen aus der Schweiz hier aus dem Blog.

Beitragsbild: Manchmal ist die Sprache eine echte Schnecke (– landsmann –, Pexels-Lizenz).

Kommentar verfassen