Als die Rätormanen 1863 «s’internet» erfanden

Wann wurde das Internet in der Schweiz zum ersten Mal erwähnt? Bei meiner Nach­for­schung gerate ich auf völlige Ab­wege, auf denen es um verwin­kel­te Kor­ri­dore, nervöse Pferde und um an­rü­chige Vor­gänge in einer Kirche geht.

Es kommt gelegentlich vor, dass ein Blogpost eine völlig andere Richtung einschlägt, als beabsichtigt. Das heute ist so ein Fall: Ich wollte für meine Rubrik mit den Tech-Premieren herausfinden, welches Schweizer Medium zum ersten Mal übers Internet berichtet hat. Dabei bin ich auf ein Nebengleis geraten und dort stecken geblieben.

Dabei fing alles ganz harmlos an: Um mich meiner Frage anzunähern, wollte ich erst einmal herausfinden, wann der Begriff des Internets erfunden wurde. Klar, wir könnten auch nach dem Vorläufer, dem Arpanet, forschen – das würde uns sicherlich zu den Anfängen führen. Aber es soll hier explizit um die erste Verwendung des Worts Internet gehen.

Vor 1974 gab es das Internet nicht? Von wegen!

Bei diesen Nachforschungen stiess ich auf das Paper «A Protocol for Packet Network Intercommunication». Das schrieben Vint Cerf und Robert E. Kahn, die beide als «Väter des Internets» gelten, 1974. Man findet es bei der Princeton University als PDF. Doch liest man es quer, ist dort nur von Internetwork, nicht aber von Internet die Rede. Wikipedia schreibt zum Begriff Folgendes:

Das Wort Internet wurde 1945 vom US-Kriegsministerium in einem Handbuch für Funker verwendet, und 1974 als Kurzform von Internetwork.

Und tatsächlich: Im Faksimile des Funker-Handbuchs findet sich sogar eine Definition:

Internet Traffic: Traffc between stations which are not assigned to the same net.

Der Ngram-Viewer von Google wiederum weist den Begriff auch schon früher aus. Ein kleiner Peak gab es beispielsweise zwischen 1921 und 1927. Die Ursache lässt sich dort nicht ergründen. Ich würde aber wieder auf die Militärfunker tippen.

Jedenfalls hatte der Begriff bei denen eine andere Bedeutung als bei Cerf und Kahn. Darum scheint es mir legitim, 1974 als Geburtsstunde des Worts in der hier verfolgten Bedeutung zu betrachten.

Die Engadiner und ihr Netz

Eine geheimnisvolle Geschichte aus dem Engadin.

Trotzdem setzte ich bei meinen Nachforschungen über die digitalen Archive früher an. Und das war dann auch der Grund, dass meine Recherche erst einmal komplett entgleiste. Ich landete den ersten Treffer am 22. August 1863: Mehr als hundert Jahre früher, als Cerf und Kahn ihr Paper schrieben – und noch bevor die erste Funkübertragung stattfand.

Der Treffer stammt aus dem «Fögl d’Engiadina», damals dem amtlichen Publikationsorgan u.a. für Silvaplana und Zernez. Dort heisst es in der Nummer 34:

Fermeda allò la gondola saglit Vannin our da quella ed ascendieu ch’el avet ils pochs s-che-lins s’internet el in ün corridor, chi correspondaiva con la s-chêla interna della chesa.

Da ich des Rätoromanischen nicht mächtig bin, habe ich mir mittels Textshuttle eine Übersetzung anfertigen lassen:

Ständig fuhr die Gondel Vannin aus dieser heraus und stieg, da er die wenigen Linsen hatte, in einem Korridor auf, der mit dem inneren Dach des Hauses korrespondierte.

Hm?

Eine weitere Stelle findet sich im «Fögl d’Engiadina», Nummer 18 vom 30. April 1864:

Marcantoni s’internet nella baselgia con pass mêlsgür fin bain dasper allas duos damas; allò rivo as laschet croder sün ün baunch e fixet l’ögl stupid sün sia ouvra.

Der stumpfe Blick auf dieses Werk

Das ist die Übersetzung von Textshuttle:

Marcantoni wittert sich in der Kirche mit sicheren Schritten neben den beiden Damen; dann fällt er auf ein Brett und richtet den Blick stumpf auf sein Werk.

Vielleicht versteht ihr meine Verwirrung an dieser Stelle: Die Übersetzungen ergeben nicht viel Sinn. «S’internet» scheint ein reflexives Verb zu sein, das aber nicht konsistent übersetzt wird. Es könnte sich um das Präteritum handeln und mein Eindruck ist, dass wir es mit einem Fortsetzungsroman zu tun haben.

Vielleicht verschafft die Nummer 41 des «Fögl d’Engiadina» vom 10. Oktober 1868 Klarheit?

Il signur smuntet, det il frain in maun da sieu amih, l’agricoltur, e s’internet nella fruschaglia, per scoprir il motiv della grand’ inquietezza dels chavagls.

Das überträgt die Software wie folgt:

Der Herr smuntet, det die Bremse in der Hand von seinem Amih, dem Landwirt, und webt sich im Rausch, um den Grund für die grosse Unruhe der Pferde zu entdecken.

Das ist der Moment, an dem ich leider kapitulieren muss: Das sind nämlich sämtliche Stellen, die sich auf Rätoromanisch auftreiben lassen¹. Es ist unverkennbar, dass die Übersetzungssoftware ihnen nicht gewachsen ist. Ich nehme an, dass jeweils ein paar altertümliche Vokabeln in den Texten stecken, mit denen Textshuttle nichts anfangen kann. Es scheint auch eine antiquierte, vielleicht auch besonders gedrechselte Ausdrucksweise vorzuliegen.

Die verschiedenen Arten der Vernetzung

Ich habe trotzdem eine Theorie: Die besagt, dass «s’internet» genau das bedeutet, was vom lateinischen Wortstamm her naheliegt: Es geht um eine Vernetzung, Vereinigung oder «Verwebung». Irgendwie hat sich ein Korridor mit der Gondel verschlungen. Der Landwirt ist ganz in seinem Rausch aufgegangen. Herr Marcantoni weiter oben hat sich irgendwie mit einigen Damen «verwebt» – und da das in der Kirche stattfand, wird es wohl nichts Sexuelles gewesen sein. Vielleicht hat er sich untergehakt?

Auf dem Abstellgleis angelangt, lasse ich meine rätoromanischen Nachforschungen damit ruhen. Und was mein eigentliches Anliegen angeht, nehme ich morgen einen neuen Anlauf. Siehe: «Computernetze gewinnen rasch an Bedeutung».

Nachtrag vom 7.6.2024

Via Twitter hat Uolf Candrian eine echte Übersetzung der beiden Passagen geliefert:

Besonders toll ist der Auftritt von John Wayne, nicht wahr?

Und die zweite Passage:

Beitragsbild: Hier wurde das Internet erfunden (NoName_13, Pixabay-Lizenz).

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