Gewissensfrage: Darf man eigene Reels veröffentlichen, wenn man selbst keinerlei Lust verspürt, sich Reels anzusehen?
Ich stelle diese Frage, weil mir etwas Peinliches passiert ist. Ich habe angefangen, via «Insta» solche Reels in die Welt zu setzen. Und was noch schlimmer ist: Es macht mir Spass.
Und zwar, obwohl ich Instagram vor fünf Jahren meine Liebe aufgekündigt habe: Wir hätten uns nichts mehr zu sagen, war damals meine bittere Feststellung. Ich habe die App damals zwar nicht gelöscht, aber nur noch einmal alle drei Monate geöffnet. Dann die volle Kehrtwendung: Ich setze mich mit solchen Ego-Videos in Szene, ich eitler Fatzke!
Passiert ist es um Weihnachten 2024 herum. Es hat beim Joggen sintflutartig geschifft, woraufhin sich mir die Erkenntnis aufdrängte, dass ein Standbild diesem epochalen Geplätscher niemals gerecht werden würde. Ich habe also ein Video gedreht, aus dem mein erstes Reel wurde.
Der Pflotsch war schuld
Bei der übernächsten Joggingrunde ergab es sich, dass nicht nur einige Wassertröpfchen vom Himmel fielen, sondern ein so alttestamentarischer Pflotsch herrschte, dass es sogar zweier Clips bedurfte, um das Ausmass der Verheerung einzufangen (den und den). Tja, und weil es zwischendurch auch mal trocken war, zeigte ich in der Folge den Abriss beim Technikum Winterthur und die morgendliche Aussicht vom Wolfensberg.

Damit war ich an dem Punkt angelangt, an dem ich nicht mehr leugnen konnte, etwas angefangen zu haben, das ich gerne weiterführen würde. Und das, obwohl Reels ein Social-Media-Phänomen sind, dem ich mich bisher verweigerte und das ich für weitgehend sinnlos halte. Wie angedeutet: Ich habe selbst keine Lust, mir Reels anzusehen.
Ich halte Reels – meine explizit eingeschlossen – für oberflächlich und selbstverliebt. Es gibt genügend Gründe, durch den Wald zu rennen: Es tut mir gut, es baut Stress ab und verbessert mein Körpergefühl. Diese Wirkung wird erzielt, auch wenn ich die Welt nicht mit einem Video behellige. Warum dann also trotzdem? Natürlich ist es reine Prahlerei: Seht her, was für ein harter Hund ich bin, während ihr faul auf dem Sofa hockt!
Niedere und nicht ganz so niedere Instinkte
Was ist die Lehre der Geschichte? Die Erkenntnis, dass die sozialen Medien derlei niedere Instinkte wecken, ist weder neu noch originell. Doch ist das womöglich nicht die ganze Wahrheit?
- Erstens wird niemand gezwungen, sich diese Reels anzusehen.
- Zweitens sind sie unglaublich erfolgreich: Sie haben allesamt ein Vielfaches der Views, die meine Fotos auf Instagram sonst ansammeln: Das Bedürfnis scheint vorhanden.
- Drittens kann man sie auch als Anknüpfung an die alten Qualitäten von Instagram betrachten. Was ich vor 15 Jahren so geschätzt habe, war die Spontaneität, die in den direkt vom Handy geposteten Schnappschüssen liegt.
Mit einer Länge von 15 Sekunden sind die Möglichkeiten limitiert: Es lässt sich in der Zeit keine komplexe Botschaft vermitteln. Möglich ist nur ein spontaner, kurzer Einblick in eine alltägliche Situation – ein Streiflicht, das einen Moment lang persönliche Nähe herstellt (oder simuliert) und nach einem Augenblick wieder vorbei ist. Die Faszination wird natürlich durch die Konstellation von Voyeurismus beim Publikum und Lust zur Selbstdarstellung beim Protagonisten befeuert.
Aber das ist, entgegen meiner bisherigen Annahme, nicht die ganze Erklärung.
Die guten Seiten der Eitelkeit
Wenn wir uns nämlich nicht darauf beschränken, uns in der sozialmedialen Aufmerksamkeit zu sonnen, dann ist es eine beträchtliche Herausforderung, in 15 Sekunden eine Kürzest-Geschichte zu erzählen. Eine kurze Botschaft, ein Eindruck, ein Stimmungsbild – es sind kreative Ausdrucksweisen gefragt.
Fazit: Ich nehme zur Kenntnis, dass meine Reels-Antipathie auf einer zu einseitigen Beurteilung basierte. Wir alle lernen, dass selbst die Eitelkeit nicht eine rein negative Charaktereigenschaft ist. Sie kann auch Ideen freisetzen, Experimentierfreude wecken und dazu führen, sich selbst neue Seiten abzugewinnen.
Trotzdem: Übertreiben wir es nicht. Es ist okay, wenn es eine Spielerei bleibt und ich nicht plötzlich Ambitionen entwickle, in den Influencer-Olymp einzuziehen.
Beitragsbild: So gekonnt sind meine Posen leider nicht (Polina Tankilevitch, Pexels-Lizenz).