Wie kündigen sich technische Revolutionen an? Krachen sie wie eine Bombe in unser Leben? Oder schleichen sie sich langsam an, mit ersten harmlosen Vorboten, auf die mit gewissem Abstand immer deutlichere Anzeichen folgen, dass etwas Grosses im Anrollen ist?
Die Antwort lässt sich in einer Zeitdauer ausdrücken: In Tagen, Wochen, Monaten oder Jahren, in denen wir uns klar werden können, dass etwas Entscheidendes passiert: Etwas, das konkrete Auswirkungen auf das tägliche Leben hat. Und etwas, dass sich nicht rückgängig machen lässt.
Die Bombe im ersten Abschnitt war nicht nur metaphorisch gemeint. Denn das Beispiel für eine technische Entwicklung, die die Menschheit völlig unerwartet getroffen hat, ist die Atombombe. Die Überraschung widerspiegelt sich auch in der Schweizer Presselandschaft:
Ich habe im digitalen Archiv nachgeschlagen, wo die Anzahl Artikel pro Jahr aufgeführt sind: 1942 ist ein Artikel vermerkt. 1943 listet die Datenbank keinen auf und für 1944 zehn. 1945 sind 1518 Artikel verzeichnet – am 6. und 9. August 1945 wurden zwei Atombomben über Hiroshima und Nagasaki abgeworfen.
Wir können den Schluss ziehen, dass es für die allermeisten Menschen keinerlei «Vorwarnzeit» gab: Sie nahmen in dem Moment zum ersten Mal überhaupt von dieser neuen Waffe Notiz, als sie auch den historischen Paradigmenwechsel erkennen mussten.
Die Gefahr bleibt im Konjunktiv
Die These lässt sich auch aufrechterhalten, wenn wir uns die wenigen Artikel ansehen, die vor dem ersten Abwurf über die Atombombe berichteten. In der Schweiz ist das Wort erstmals am 14. April 1942 in der katholischen Zeitung Neue Zürcher Nachrichten gedruckt worden. Unter dem Titel Geheimwaffen – einst und jetzt ist etwas erschienen, das wir nach heutigen Masstäben als Listicle bezeichnen würden. Es kümmerte sich um die hauptsächlich konventionellen Kampfmittel, die den Zweiten Weltkrieg prägen:
Zwei Waffen spielen in diesem Krieg eine wesentliche Rolle, die vielleicht sogar entscheidend sein werden: das Unterseeboot und das Flugzeug.
Die Atombombe kam erst am Schluss zur Sprache, und die Formulierung im Konjunktiv verspricht, dass es noch lange dauern werde, bis Kernwaffen spruchreif sind:
Die Zukunft birgt auf dem Gebiet der Geheimwaffen noch manche Überraschung in sich. (…) Es kann sich weiter um die berüchtigte Atombombe handeln, deren Wirkung auf der unerschöpflichen Kraft, gegründet in der Zusammensetzung der Materie, beruht. Eine derartige Einpfundbombe, zur Entladung gebracht, hätte die vollständige Zerstörung alles Bestehenden in einem Umkreis von zehn Kilometern zur Folge.
Alles bloss graue Theorie?
Die Vorstellung, das alles betreffe uns nicht wirklich, hält sich selbst zehn Monate vor dem ersten Atombombenabwurf noch: Zehn Artikel erscheinen im Oktober 1944, die alle auf die Prager Zeitung Der Neue Tag zurückgehen. Die hat anscheinend berichtet, wie Otto Hahn zum ersten Mal ein Uran-Atom gespalten hat. Wie das in der Schweiz angekommen ist, lässt sich bei «Die Tat» in der Ausgabe vom 5. Oktober 1944 nachlesen. Als Erstes deutet die Zeitung eine mögliche Zeitenwende an:
Vielleicht ist der Stockholmer «Daily-Mail»-Korrespondent durch diesen Prager Artikel zu seiner jetzigen sensationellen Nachricht inspiriert worden, dass die Atombombe die neue deutsche Waffe darstelle, welche deutsche Wissenschafter im Begriffe stehen, auszuarbeiten, und dass das Prinzip der Atombombe auf der Atomzertrümmerung beruhe! Gewiss, bei der Atomzertrümmerung werden Energien freigemacht, denen gegenüber alle unsere bisherigen irdischen Energiequellen zu Bedeutungslosigkeit verblassen.
Doch dann folgt die Beruhigungspille:
Aber all dies ist vorläufig Theorie, denn wenn es auch bis heute schon gelungen ist, mit Hochspannungselektrizität Elemente zu spalten, so war die Ausbeute doch unendlich klein und die befreiten Energien unwirksam, also nicht verwendbar. Alle Versuche haben bis heute gezeigt, dass wir nicht genügend Energie konzentrieren können, um durch eine Kettenreaktion, wie sie Professor Hahn in Aussicht stellt, die ganzen Uranmassen aufzuspalten, denn die Kräfte, die die Atome zusammenhalten, sind riesig. Der Weltuntergang durch Atombomben ist also noch in weiter Ferne.
Kein Wissensvorsprung durch Zeitungslektüre
Damit sind wir bei der Erkenntnis des heutigen Tages. Die tut mir in der Seele weh. Sie lautet nämlich, dass wir Medien nicht zum Auguren taugen. Es ist gleichgültig, wie viel Vorlaufzeit es gibt.
Selbst die aufmerksamen Zeitungsleserinnen und -leser haben keinen entscheidenden Wissensvorsprung. Auch andere – zivile – Beispiele aus meiner Rubrik Tech-Premiere belegen das. Beim virtuellen Geld oder dem Desktop Publishing existiert eine frühe Berichterstattung. Doch die konzentriert sich auf theoretische Konzepte, auf erste Feldversuche, Laborbefunde und Expertenmeinungen, aus denen sich die eigentliche Bedeutung nicht ableiten lässt.
Wir Journalistinnen und Journalisten sind nicht schlecht darin, schon vorab gewisse Anzeichen für grosse Veränderungen zu entdecken und zu berichten. Doch solange die technische Revolution ihre Wirkung nicht entfaltet hat, müssen wir im Vagen und Ungefähren bleiben. Wir wollen den Wandel nicht herbeireden. Und wir Journalisten oder Journalistinnen wollen uns nicht mit waghalsigen Prognosen blamieren. Zu Recht, denn wenn in den Zeitungen technische Revolutionen vorausgesagt wurde, war es tatsächlich oft eine Blamage.
Wir können diesen Sachverhalt schön mit der Puddingprobe erklären. Das englische Sprichwort The proof of the pudding is in the eating meint, auf den technischen Fortschritt übertragen, dass sich eine neue Technologie durchsetzen muss, um zu beweisen, dass sie sich durchsetzen kann.
Oder andersherum: Es handelt sich um ein Kernmerkmal einer technischen Revolution, dass sie uns auf dem falschen Fuss erwischt.
Beitragsbild: Atombombentest am Bikini-Atoll (The U.S. National Archives, CC0).