Ich schätze Frank Schätzing als vielseitigen, gewissenhaften und originellen Autor. «Breaking News», sein Buch zum Nahostkonflikt, fand ich überaus erhellend. Das Sachbuch zum Klimawandel, «Was, wenn wir einfach die Welt retten?», empfehle ich gerne weiter. Mit «Die Tyrannei des Schmetterlings» und Themen wie dem Multiversum und KI hat er sich 2018 aber übernommen.
2024 legt Schätzing den Monumentalschinken Helden vor. Er (der Schinken) hat 1040 Seiten und ist als gebundene Ausgabe 1,2 Kilogramm schwer: Und auch inhaltlich hat dieses Werk Gewicht.
«Helden» ist die Fortsetzung von Tod und Teufel von 1995 (hier als Hörspiel besprochen) und eine Weiterführung der Abenteuer von Jacop der Fuchs, einem elternlosen Gelegenheitsdieb, der unbeabsichtigt die Geschicke der mittelalterlichen Stadt Köln mitbestimmt. Im September 1260 beobachtet er nämlich, wie der gedungene Mörder Urquhart (ja, wie die schottische Burg) den Dombaumeister Gerhard Morart vom Baugerüst stösst.
Köln war gestern
Im Verlauf dieser neuen Saga holt Schätzing viel weiter aus: Es finden zwar dramatische Ereignisse in Köln statt, bei denen Jacop eine wichtige Rolle spielt. Der Erzbischof versucht, seinen Machtanspruch auf die Handelsstadt zu festigen. Aufgrund einer kleinen Intrige wählt er aber so drakonische Mittel, dass die Bevölkerung und die Patrizier gar nicht anders können, als sich dagegen aufzulehnen.
Doch Jacop hat die Gelegenheit, seine Heimatstadt zu verlassen und weit in der Welt herumzukommen: Er darf als Protegé des Kaufmanns Mathias Overstolz und als Student der sieben Künste nach Paris und zur Handelsmesse in der Champagne reisen. Er schafft es auch nach England, wo er in einen Putsch hineingerät, der als Zweiter Krieg der Barone in die Annalen eingeht. Anführer ist Simon de Montfort und beseitigt werden sollten König Henry und der Thronfolger Edward, während seine Frau Eleanor in einer Barke über die Themse aus dem Palast flieht und von den Londonern mit faulen Eiern und schlimmeren Widrigkeiten beschossen wird. Die Kölner Kaufleute eilen mit einer Tasche voller Gold zur Unterstützung des Monarchen herbei und geraten zwischen die Fronten. Bei der Gelegenheit bekommen sie es mit Muirgheal zu tun. Als «blonde Hexe» schlägt sie dem tüchtigsten Söldner in Königs Diensten den Kopf ab, sticht ihm die Augen aus und gibt mit ihren abgerichteten Seeadlern eine imposante Kriegerin ab. Und für mich als historischen Amateur wirft sie die Frage auf, wo bei Schätzing die Grenze zwischen den belegten Fakten und der künstlerischen Freiheit verläuft.
Wo das Geschichtsbuch aufhört und Schätzings Fantasie anfängt
Ich gebe gerne zu, dass Schätzing mit diesem ausufernden Roman meine Geschichtskenntnisse überstrapaziert. Ich habe mir gelegentlich gewünscht, ich hätte bei Matthias von Hellfelds Podcasts genauer hingehört, als es zum Beispiel um Johann Ohneland ging. Der lebte zwar vor den Ereignissen im Roman, hat aber die Beziehung zwischen Köln und dem englischen Königshaus geprägt – und ganz generell hilft es natürlich, einordnen zu können, welchen Umwälzungen Europa in jener Zeit ausgesetzt war:
Es ging um den Aufstieg der Händler und Kaufleute und deren zunehmender Einfluss gegenüber Adel, Monarchie und auch der Kirche. Die steht besonders unter Druck, weil das Wissen und Denken als vielversprechendere Alternative zum Glauben erscheinen – auch wenn sein Mentor beide Seiten in einer Person vereinigt: Er ist Priester und Physicus (eine Art Arzt) in einer Person und weiss die Religion geschickt für seine Zwecke einzusetzen. Er spielte schon in «Tod und Teufel» eine wichtige Rolle und hilft Jacop nun, seine Sinne in der Logik, Rhetorik und Dialektik zu schärfen. Wie zum Beispiel mit diesem kleinen Rätsel: «Eine Katze hat einen Schwanz mehr als keine Katze, keine Katze hat zwei Schwänze, also hat eine Katze drei Schwänze.» Oder?
Wer hats erfunden?
Die Händlerkreise, in die Jacop hineingerät, sind schlau darin, sich neue Geschäftsmethoden auszudenken. Zum Beispiel, Güter zu fixen Preisen zu kaufen, noch bevor die überhaupt produziert worden sind. Wer dabei an Termingeschäfte denkt, liegt genau richtig: Schätzing beschreibt, wie im 13. Jahrhundert mit Formen der Spekulation experimentiert wurde. Diese Ur-Kapitalisten setzen Geld ein, das sie bislang nicht erwirtschaftet haben, spekulieren auf zukünftige Entwicklungen und Gewinne und schliessen Wetten auf zukünftige Preise ab.
Diese Passagen haben mich mindestens ebenso gepackt, wie die Kämpfe um Köln, bei denen eine Granata ein ganzes Waffenlager in die Luft sprengt. Denn sie zeigen, dass unser Wirtschaftssystem nicht vom Himmel fiel, sondern sich aus der Rivalität der Handelsstädte entwickelten, die dadurch an Grösse und Einfluss gewannen und ihren Einflussbereich weiter ausdehnten. Es macht sich die Ahnung breit, dass das Mittelalter nicht ewig andauern wird, sondern eine neue Denk-, Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung in den Startlöchern steht. Schätzings Timing mit diesem Buch ist ausgezeichnet – wo heute das dogmatisch-religiöse Denken ebenso auf dem Vormarsch ist, wie rigide Traditionen und der Techno-Feudalismus eines Elon Musk.
Ein Namensverzeichnis im Hörbuch?
Fazit: Eine Herausforderung, dieses Buch – die wir aber annehmen sollten. Ich habe es als – grossartig von Simon Jäger gelesenes – Hörbuch genossen und einmal mehr festgestellt, dass diese Darreichungsform bei so komplexen Werken Mankos hat: Eine Übersicht der Handlungsstränge, eine Chronologie bzw. eine Zeitleiste wäre hilfreich, und ein interaktives Personenverzeichnis sowieso. Der Rezension der «Welt» entnehme ich, dass es das in der gedruckten Fassung gibt und es über sieben Dutzend Namen aufzählt.
Die Stärken des Buchs sind die lebendigen Figuren und die grossartigen, oft humorvollen Dialoge. Die enorme Fülle an Details, die bei einem so akribischen Rechercheur wie Schätzing auch immer authentisch wirken, geben uns einen plastischen Eindruck, wie das Leben damals war. Wie hätte ich damals mein Leben bestritten? Vielleicht als Botenreiter, der die Strecke Genua-Köln in Rekordzeit schafft?
Was die Geschichte angeht, die am Ende eine (für mich unerwartete) Wendung bereithält, hätte sie wahrscheinlich etwas zugänglicher sein können, wenn der Autor näher bei Jacop geblieben wäre. Er kam mir als Identifikationsfigur zu kurz. Und falls es, wie die «Welt» andeutet und wie es aufgrund des Cliffhangers am Ende mehr als wahrscheinlich erscheint, einen dritten Teil geben sollte, erwarte ich dort einen starken Auftritt von Jacops Freundin Richmodis, die mehr verdient hat als die ewige Nebenrolle.
Ein kurzer Nachtrag, der an meine Kritik an den Verlagen und ihren hässlichen Buchcovern anschliesst: Ich kann mich beim Umschlag von «Helden» des Eindrucks nicht erwehren, dass das Motiv per KI generiert wurde. Darauf deuten auch die Social-Media-Versatzstücke hin, die der Verlag Kiepenheuer & Witsch zum Download anbietet. Die sind leider derartig klischeehaft und blutleer geraten, dass sie der Authentizität des Werks keineswegs gerecht werden. Mein Tipp: Entweder einen echten Künstler anstellen oder es bleiben lassen!
Beitragsbild: Genauso muss Jacop der Fuchs ausgesehen haben (Tima Miroshnichenko, Pexels-Lizenz).