Ob sich Schätzing da nicht verschätzt?

«Die Tyrannei des Schmet­terlings» des Kölner Best­sel­ler-Autors befasst sich mit der künst­lichen Intel­li­genz. Die Ge­schichte hat das Potenzial zum Aben­teuer­roman, wirkt letztlich aber sehr über­frachtet.

Die Cover-Illustration ist eigentlich eine schematische Darstellung der Handlungsstränge.

Frank Schätzing hat wieder zugeschlagen. Die Tyrannei des Schmetterlings heisst sein neuester Schinken, der mit «nur» 736 Seiten vergleichsweise dünn ausgefallen ist («Der Schwarm» hat 1008, «Limit» sogar 1312 Seiten). Trotzdem geht Schriftsteller, der laut Wikipedia auch mal als Wäschemodel arbeitet, gewohnt ambitioniert an die Sache heran. Er nimmt sich den Megatrend der künstlichen Intelligenz und baut ihn zum dystopischen Thriller aus: Wie es sich für einen Thriller gehört, mit vielen Schauplätzen.

Doch Schätzing gibt sich nicht mit Afrika und dem kalifornischen Sierra zufrieden. Auch der Mond ist ihm, wie bei «Limit» nicht genug. Nein, dieses Mal müssen es parallele Welten sein.

Das kam eher schlecht an, wie eine kurze Googelei ergibt:

Viele literarische Abfahrten vom Haupterzählstrang führen ins Nirgendwo. Laufend ausgebremst verliert der spannende Plot viel Dynamik. (Stern)

Aber neues Wissen vermittelt dieser Roman nicht, neue Fragen stellt er nicht. Eher solche: «Wie soll man die Absichten eines Systems kontrollieren, das uns in jeder Fähigkeit übertrifft – also auch in der des Lügens?». Schätzing lügt zu wenig, ist zu korrekt. Der Erkenntnisgewinn und der Unterhaltungswert seines Romans bleiben gering. (tagesspiegel.de)

Die endlosen Landschaftsbeschreibungen und detaillierten Schilderungen computergenerierter Gebilde tun dem Buch keinen Gefallen. Schätzing ist ein exzellenter Schreiber, doch berauscht er sich immer wieder an den eigenen Formulierungen.(diepresse.com)

Das irreparable Desaster sind Sprache und Bilder. Alles ist sehr krumm und schief und dann oft auch noch dräuend und teutonisch, très Wagner. (zeit.de)

Richtig verheerend sind die Bewertungen auf Amazon, wo (anfangs Juni, während ich diesen Blogpost schreibe) die 1-Stern-Bewertungen überwiegen: Völliger Mist, schwache Umsetzung, langweilig, keine Spannung, grottenschlechte Geschichte, ein bisschen anstrengend, ein furchtbarer Schreibstil.

Nicht der beste Schätzing. So schlecht aber auch wieder nicht.

Ich nehme an, dass sich dieses Bild mit der Zeit relativieren wird. Denn auch wenn ich dieses Buch für den zweitschlechtesten Schätzing halte (nach «Der Schwarm», Breaking News, «Limit» und Tod und Teufel, aber noch vor Die dunkle Seite), so würde ich dennoch nicht so hart ins Gericht gehen.

Obwohl die Kritikpunkte nicht unberechtigt sind: Dieses Buch verwendet eine sperrige Sprache, die überzogen gedrechselt und gestelzt daherkommt. Sie erinnert mich an mich selbst, als ich irgendwann in der Pubertät die Fremdworte entdeckt habe und mit einer Riesenfreude so viele davon gebraucht habe, dass nur noch wenig Deutsch übriggeblieben ist.

Ich fand es auch durchaus lustig, dass viele Leute sich in die Defensive haben drängen lassen, wenn sie eines dieser Fremdworte nicht gekannt haben. Heute würde ich das als pubertär bezeichnen: Es ist die Lust an der Provokation, die natürlich altersgerecht ist – auch wenn es eher untypisch ist, dieser Lust mit Worten und nicht mit einer Irokesenfrisur oder mit Botellóns Ausdruck zu verleihen.

Wie oft darf etwas auf 736 Seiten pirouettieren

Als bei «Die Tyrannei des Schmetterlings» zum fünften Mal einer oder etwas pirouettieren musste («… noch in der Luft pirouettiert ihr Körper, dann erwischt ihn ihr rechter Fuss auf Brusthöhe und schleudert ihn gegen die Kühlerhaube des Streifenwagens…»), kamen mir schon Zweifel, ob Schätzing der Pubertät entwachsen ist.

Denn zur Hauptsache spielt das Buch in Kalifornien, in Sierra. Luther Opoku ist schwarz und ein erfahrener Drogenfahnder, der für ein Landei zwar viel zu hell ist, aber zu dem trotzdem eine knappe, präzise und unverschwurbelte Sprache gepasst hätte. In einigen Dialogzeilen beweist Schätzing, dass er diesen Stil durchaus draufgehabt hätte. Aber gut, er hat sich anders entschieden. Damit kann ich leben.

KI und Multiversum?

Manche Kritiker fragen sich auch, warum es neben der künstlichen Intelligenz denn auch noch diese Parallelwelten geben muss. Da hört man die flehentliche Bitte durch, dass doch ein so exotisches Thema gereicht hätte – KI und Übertritte in andere Instanzen unserer Welt, das war ihnen zu viel Sciencefiction. Da war der Mond als Rohstofflager und der Weltraumlift in «Limit» geradezu Folklore dagegen.

Auch da bin ich nicht dabei: Die beiden Versatzstücke passen nicht schlecht zusammen – obwohl man auch da behaupten könnte, dass es ein fauler Trick Schätzings ist, die künstliche Intelligenz so intelligent zu machen, dass sie die Grenzen der Physik überwinden und Leute in andere Universen transportieren kann, ohne dass wir Menschen nur den Hauch einer Ahnung hätten, wie das geht.

Mehr Realitätsnähe hätte der Geschichte gut getan

Es ist aber ein Problem für die Glaubwürdigkeit der Geschichte: Denn Schätzing geht es darum, seine Geschichte in den Bereich des Möglichen zu rücken. Sein Buch soll Near Future-Sciencefiction sein: Die Geschichte ist bloss eine überschaubare Zahl von Jahren in die Zukunft versetzt, sodass sich der Leser vorstellen kann, die beschriebene Zeit noch selbst zu erleben. Das macht es persönlicher als eine Geschichte, die erst in fünfhundert Jahr in einer völlig veränderten Welt spielt.

Da passt die künstliche Intelligenz ausgezeichnet: Sie beschäftigt uns und beunruhigt viele unter uns. Dass die KI aber demnächst Reisen in Parallelwelten ermöglichen wird, werden weder die Gegner noch die Befürworter der künstlichen Intelligenz für realistisch halten. An der Stelle dürfte Schätzing viele Leser abhängen, weil er dem in der Realität verankerten Thema einen Drall ins Fantastische gibt. Und das macht es für viele weniger dringlich und nicht mehr so relevant.

Diese Viecher gibt es auch als genmanipulierte Killermaschinen. (Bild: nidan/Pixabay, CC0)

Wer mich kennt, weiss, dass mich auch das nicht stört. Ich mag Parallelwelten, alternative Realitäten und die Implikationen, die sich ergeben, wenn man von einer Welt in die andere reisen kann. Schätzing hat das, wie ich finde, sehr schön beschrieben. Die Welten sind mit ihren Unterschieden und Gemeinsamkeiten spannend und regen die Fantasie an.

Die vielen, vielen Ichs

Und auch die Probleme beschreibt Schätzing schön, die sich ergeben, wenn man plötzlich unzähligfach in unendlich vielen Instanzen existiert, in denen das eigene Leben jede erdenkliche Wendung genommen hat. Auch Schätzings Auflösung dieses Dilemmas überzeugt: Trotzdem ist man noch immer sich selbst – und es gibt ausreichend Gründe, Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen.

Wie hier beschrieben, habe ich nicht kapiert, wie es zur Zeitverschiebung zwischen den parallelen Welten gekommen ist – aber weswegen das aus Plot-Sicht notwendig ist, leuchtet natürlich ein.

Als locker-flockiger Abenteuerroman hätte die Geschichte mehr Spass gemacht

Fazit: Ich habe mich sehr gut mit «Die Tyrannei des Schmetterlings» unterhalten. Wahrscheinlich wäre das Resultat besser geworden, wenn Schätzing nicht so viel Gravitas in sein Werk gelegt hätte und seine Geschichte als locker-flockigen Abenteuerroman erzählt hätte. Das ist nicht verpönt – man muss nicht unbedingt das ultimative Jahrhundertwerk zur Menschheit abliefern, die an der Schwelle des Zeitalters der künstlichen Intelligenz steht.

Wobei, bei einem reinen Abenteuerroman hätte Schätzing vielleicht noch mehr Action abgeliefert – und davon hatte ich absolut ausreichend auch in dieser Variante des Buchs (wie es hier sehr schön heisst: «Frank Schätzing ist der Roland Emmerich des Schreibens.» Dass Romane heutzutage offenbar immer filmreife Showdowns aufweisen müssen, halte ich für unnötig und eine Marotte. Keine Ahnung, ob das nur ein Modephänomen ist oder ob da immer schon auf den Verkauf der Filmrechte spekuliert wird.

Ja, irgendwo in einem Paralleluniversum gibt es eine wirklich gelungene Variante von «Die Tyrannei des Schmetterlings», wo es noch mehr darum geht, in den parallel existierenden Welten diejenige zu finden, bei der alles gut gelaufen ist. Aber ich empfehle auch die Version aus diesem Universum hier zur Lektüre.

Keilerei im Serverraum

Noch kurz zum Inhalt: Luther Opoku muss den Mord an einer Frau aufklären, die auf der Flucht in den Tod gestürzt ist. Er bringt die Unbekannte schnell mit einem Unternehmen namens Nordvisk in Verbindung, das in Palo Alto ein riesiges Gebiet namens Farm betreibt, in dem unbekannte Dinge vor sich gehen. Nordvisk ist führend auf dem Feld der künstlichen Intelligenz, weniger bekannt als Google, aber viel einflussreicher.

Dort auf der Farm wird er von den Chefs persönlich empfangen: Vom charismatischen Hugo van Dyke, der ihn übers Gelände führt, und dem Augenkontakt meidenden Super-Nerd, Elmar Nordvisk. Unterwegs begegnet Opoku dem Sicherheitschef des Unternehmens, Jaron Rodriguez, der sich sogleich verdächtig verhält, und einer geheimnisvollen Sicherheitsbeamtin namens Grace Hendrix, die ihm irgendwelche Zeichen zu geben scheint. Jedenfalls eskaliert die Sache: Es gibt eine Keilerei mit Jaron und eine Verfolgungsjagd durch den riesigen Serverraum, in dem Ares (bzw. A.R.E.S.), die grosse künstliche Intelligenz zu Hause ist.

Opoku gelangt auf «die Brücke», einen Übergang in ein anderes Paralleluniversum. Doch was mit ihm passiert ist, muss der Under-sheriff erst noch herausfinden. Er stellt jedoch fest, dass einige Dinge nicht so sind, wie sie sein müssten: Seine Kollegin Ruth Underwood wähnt ihn in den Ferien. Pilar Guzmán, die Frau, die eigentlich tot sein müsste, lebt. Auch wenn sie nicht auf Opokus Anrufe reagiert. Und auch seine Exfrau Jodie Kruger, die eigentlich bei einem Unfall ums Leben gekommen sein müsste, erfreut sich bester Gesundheit – und kocht sogar für ihn.

Ab durchs Multiversum

Opoku kommt der Sache also auf der Spur: Die künstliche Superintelligenz Ares ist nicht ganz so altruistisch, wie der gutmeinende Elmar Nordvisk sie programmiert hat. Im Gegenteil: Sie lässt sich von Waffenhändler Michael Palantir instrumentalisieren, um hochgezüchtete Insekten, tierische Cyborgs, zwischen den Parallelwelten zu schmuggeln.

Es kommt zum Katz- und Maus-Spiel zwischen dem Team Opoku und dem Team Rodriguez/Hendrix, das durch mehrere Paralleluniversen führt und seinen finalen Showdown in einer von Menschen befreiten Welt findet. Dort ist Ares der Alleinherrscher. Und es zeigt sich, dass auch Michael Palantir nur eine Erfindung des Supercomputers war, mit der er seine wahren mentalen Fähigkeiten und die nicht sehr menschenfreundlichen Absichten verschleiert hat…

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