Medium.com: Das ist eine Plattform, auf der es ein vielfältiges Angebot an Lektüre gibt. Die ist dem Namen zum Trotz kein Medium im herkömmlichen Sinn – wenn wir unter dem Wort eine Publikation verstehen, bei der es eine Redaktion und eine Verlegerin gibt.
Vielmehr stammen die meisten der Beiträge nicht von professionellen Autorinnen und Autoren, sondern von Leuten, die das Schreiben als Hobby oder Nebentätigkeit verfolgen. Es handelt sich um eine Online-Community im traditionellen Sinn: Als User können wir unseren Lieblingsautoren und -autorinnen folgen, mit ihnen interagieren und über den Clap-Knopf unsere Zustimmung ausdrücken. Weitere wichtige Merkmale sind die ruhige Gestaltung, die ohne Ablenkung auskommt und das Geschäftsmodell: Es gibt keine Werbung, dafür ein Abo für 50 oder 150 US-Dollar im Jahr, das Zugang zu den exklusiven Posts gewährt. Die Autorinnen und Autoren werden an den Einnahmen beteiligt, wobei die Einnahmen von der aufsummierten Lesezeit abhängen.
Erfunden von «Mr. Blog» himself
Ins Leben gerufen wurde «Medium» von Evan Williams. Er gehört zu den Tech-Unternehmern, deren Namen den meisten von uns nicht geläufig sind – aber zu Unrecht: Williams hat 2007 Twitter mitbegründet und war schon 1999 an der Entstehung von blogger.com beteiligt. Und nicht nur das: Wenn wir Wikipedia glauben wollen, hat er auch den Begriff des Blogs erfunden und somit einen wesentlichen Beitrag zu einer lebendigen Internetkultur geleistet. Nebenbei ist er durch diese Aktivitäten auch zum Milliardär geworden.
Dieser Lebensleistung zum Trotz liegt euch an dieser Stelle vermutlich eine Frage auf der Zunge: Warum zum Geier erscheint 2024 eine Besprechung dieser Plattform? Es gibt «Medium» seit zwölf Jahren. Und man kann argumentieren, dass sie ihren Zenit längst hinter sich haben: Die Blütezeit von Tumblr, Blogger und Wordpress.com dauerte bis ungefähr Mitte der Zehnerjahre. Heute wirken sie aus der Zeit gefallen; wie ein Relikt für Leute, die bei Tiktok nicht mehr mithalten können.
Ein alter Hut?
Das ist richtig, aber ich habe drei stichhaltige Gegenargumente:
Erstens die einigermassen brauchbare personalisierte Auswahl an Beiträgen, auf die ich weiter unten noch ausführlich zu sprechen komme.
Zweitens aber mein Eindruck, dass «Medium» entgegen dem allgemeinen Trend einen properen Eindruck macht. Nach eigenen Angaben nutzen mehr als 100 Millionen Menschen pro Monat die Plattform und es gibt eine Million zahlende User. Das ist ein gutes Indiz dafür, dass das Bloggen auch 2024 noch immer nicht tot ist.
Drittens die Tatsache, dass in den letzten zwölf Jahren nie der richtige Zeitpunkt für eine Vorstellung von «Medium» gab. Die Plattform hat im deutschsprachigen Raum nie Fuss gefasst. Die Schweizer Medien haben der Plattform und ihrem Gründer Evan Williams gemäss SMD lediglich fünf Artikel gewidmet. Nur in einem ging es hauptsächlich um «Medium», bei den anderen vier stand Twitter im Zentrum. «Medium» selbst hat ab 2015 versucht, eine deutschsprachige Community aufzubauen, doch dieses Unterfangen wurde schon ein Jahr später wieder abgeblasen. Immerhin habe ich einen Arbeitskollegen entdeckt, der allerdings auf Englisch bloggt.
Also, hier wie versprochen einige Beobachtungen zum ersten Punkt: Ich habe seit einiger Zeit die Smartphone-App installiert, die es für Android und fürs iPhone gibt – «Medium» lässt sich aber auch einfach via Web nutzen. Wie bei solchen Content-Apps mit Personalisierung üblich, müssen wir uns anfänglich für einige Themenfelder entscheiden. Daraufhin erhalten wir Posts aus diesen Gebieten. Ich habe nicht den Eindruck, dass die App gross aus meinen Vorlieben lernt. Stattdessen setzt sie mir, so ist mein Eindruck, klickstarke Lesestücke vor.
Clickbaiting wie bei den richtigen Medien
An denen habe ich zwei Dinge auszusetzen:
Die allermeisten der vorgeschlagenen Beiträge haben ein gelbes Sternchen. Das sind «member only»-Posts, die nur von zahlenden Usern zu Ende gelesen werden können. Für Leute ohne Abo handelt es sich weniger um Leseempfehlungen als vielmehr um Abowerbung. Als Journalist, dessen Artikel gelegentlich ebenfalls hinter einer Paywall erscheinen, stelle ich mich nicht grundsätzlich gegen dieses Prinzip. Aber in der For you-Auswahl ist der Anteil der nicht zu Ende lesbaren Artikel frustrierend hoch.
Zweitens das Clickbaiting: Da der Lohn der Autorinnen und Autoren beim Bezahl-Content vom Interesse des Publikums abhängt, kommen die altbekannten Tricks zum Einsatz, um dieses zu befeuern. Titel sind oft marktschreierisch (18 Hidden iOS 18 Features Apple Did Not Reveal To Us), und weil die Lesezeit mitberechnet wird, fallen die Artikel oft schwafelig und langfädig aus.
… und natürlich bin ich an dieser Stelle, der im Glashaus mit Steinen wirft, weil ich eure Geduld hier auch oft mit Ausschweifungen, Exkursen und langwierigen Einleitungen auf die Folter spanne. Ich tue das allerdings aus reiner Boshaftigkeit und nicht, weil ich damit mehr verdienen würde. Und in aller Bescheidenheit: Ich kann einen Spannungsbogen besser aufrechterhalten als der durchschnittliche «Medium»-Autor.
Ein Komplementärprogramm der guten Art
Einen positiven Aspekt hat diese Sache aber doch: Sie zeigt in aller Deutlichkeit auf, dass nicht die Verlage und schon gar nicht die Journalistinnen schuld an Entwicklungen wie dem Clickbaiting sind. Nein, das ist die fast unvermeidliche Folge, wenn Artikel nach Klicks oder Lesezeit abgerechnet werden. Das ist ein starkes Argument für die gedruckte Tageszeitung: Die muss sich ihr Geld nicht Artikel für Artikel verdienen, sondern die Abogebühr durch die Gesamtleistung während der Laufzeit des Abonnements rechtfertigen.
Trotz dieser Kritik lohnt es sich, gelegentlich bei «Medium» vorbeizusehen. Das Angebot ist ein starkes Kontrastprogramm zu den Texten, die es über die News-Apps und im Feedreader zu lesen gibt. Dort dominiert die Aktualität, sodass uns die gleichen Themen oft immer und immer wieder begegnen. «Medium» ist weniger repetitiv, weil dort die Autorinnen und Autoren individuelle Schwerpunkte setzen. Weil ich das in meinem Blog auch tue, empfinde ich das inspirierend. Darum ist «Medium» eine gute, komplementäre Ergänzung zu meinem Feedly-Programm – und hier trotz aller Einwände eine Empfehlung wert.
Und wie ist Medium aus Sicht des Schreibenden?
Nachtrag: Ich hatte die brillante (?) Idee, via Medium einen Fuss ins angelsächsische Blogginggeschäft zu bekommen. Sprich: Ich habe die Idee entwickelt, besonders populäre Blogposts auf Englisch zu übersetzen – natürlich maschinell – und in meinem Kanal zu veröffentlichen. Bis jetzt ist daraus noch keine internationale Karriere geworden. Ich habe es allerdings auch erst geschafft, einen einzigen Blogbeitrag dieser Behandlung zu unterziehen – und bei dem hält sich der Erfolg mehr als in Grenzen.
Nun, immerhin habe ich keine eigene Domain aufgesetzt wie beim letzten Mal, als mich Expansionsgelüste gepackt hatten. Falls sich Erkenntnisse bezüglich Medium aus der Sicht des Bloggers ergeben, werde ich die aber gerne nachtragen.
Beitragsbild: Wieder ein Artikel, der aus Gründen langfädig geraten ist (Photo By: Kaboompics.com, Pexels-Lizenz).