Eine Nebenwirkung von Kindern besteht darin, dass man selbst immer mal wieder in seine Kindheitstage zurückversetzt wird. Das passiert dann, wenn man dem Nachwuchs die Geschichten vorliest, die man selbst vor einer Handvoll Jahrzehnten vorgelesen bekommen hat.
Ich geniesse das. Es ist eine gesunde Form von Sentimentalität. Und man hat die Gelegenheit, die Erzählungen der Kindheit mit den Augen eines Erwachsenen neu zu entdecken. Und es ist schön zu sehen, dass manche Geschichten das aushalten und ihren Reiz behalten. Und nicht nur das: Sie geben einem die Gelegenheit, ein paar Finessen zu entdecken, die einem als Kind entgangen sind.
Otfried Preussler, der Held meiner Kindheit
Mir geht das mit den Büchern von Otfried Preussler so. Die kleine Hexe, der kleine Wassermann, das kleine Gespenst, Hotzenplotz und später auch der starke Wanja und Krabat fand ich als Bub toll. Und sie gefallen – soweit sie schon alt genug dafür ist – auch meiner Tochter.
Ich erzähle sie aus den gleichen alten Büchern. Meine Mutter hat sie nämlich sorgfältig aufgehoben und uns fürs abendliche Geschichtenerzählen überlassen. Was meiner Tochter die Gelegenheit gibt, sich belustigt oder manchmal auch empört darüber zu zeigen, wie ich die Zeichnungen in den Büchern ausgemalt habe. Ich gebe ihr recht: Die Farbgebung ist unpassend expressiv und die Strichführung mitunter unkonzentriert bis schluddrig.
Und ja: Das geht nur mit gedruckten Büchern, nicht mit digitalen Ausgaben. Ich treibe die Nostalgie sogar noch ein bisschen weiter: Ich finde es schade, dass die modernen Ausgaben der Bücher (gerade auch die von Otfried Preussler) vierfarbig gedruckt und bereits koloriert sind. Denn das Ausmalen hat mir damals offensichtlich Spass gemacht. Und über die Konzentrationsmängel kann man leicht hinwegsehen, wenn das meine Tochter dem Jungen, der ich damals war, ein bisschen näher bringt.
Die diversen Hotzenplotz-Varianten in Griffnähe
Trotzdem zum digitalen Teil des Blogposts: Spannend sind nicht unbedingt die E-Books der Bücher, sondern die Varianten, die man per Streaming bekommt. Zum Beispiel beim Räuber Hotzenplotz. Auf Spotify findet sich eine Hörspielfassung, die anscheinend von Universal Music stammt. Man findet auch den neulich erschienen vierten Teil Der Räuber Hotzenplotz und die Mondrakete.
Leider gibt es dort nicht die schweizerdeutsche Version, die auf die Theaterfassung von Jörg Schneider zurückgeht, der sie für das Zürcher Theater Hechtplatz 1969 geschrieben hat. Die findet man, wohl kaum offiziell lizenziert, auf Youtube. In der spielt Vincenzo Biagi auf absolut unvergleichliche Weise den Räuber Hotzenplotz.
Ich mag nicht ganz objektiv sein, was das angeht – denn ich habe die Platte davon als kleiner Junge sicher Hunderte Male gehört.
Die Schweizerdeutsche Hörspielfassung hängt alle ab
Aber meiner bescheidenen Meinung nach schlägt Biagi die Verfilmung von 1974 um Längen. Obwohl damals Gerd Fröbe den Räuber gab.
Jedenfalls ist es toll, dass heute die Varianten so leicht zugänglich sind. Man kann sie auch vergleichen – und es ist verblüffend, wie sehr sie sich unterscheiden. Die Fassung von Jörg Schneider ist stärker verdichtet. Sie hat mehr Schmiss und ist slapstikhafter als die hochdeutsche Variante. Der preussische Anteil des Polizisten Dimpfelmoser/Dünklimoser fehlt völlig.
Und natürlich hört man den Kasperli aus der legendären Hörspielreihe von Jörg Schneider, Ines Torelli und Paul Bühlmann durch, die Schneider für Ex Libris produziert hat (siehe auch Spotify macht den Kasperli). Ich weiss nicht, ob jemals sauber auseinandergedröselt wurde, wie diese beiden Produktionen ineinander verflochten sind.
Die Inspirationswege nachvollziehen
Aber es liegt auf der Hand, dass sie sich gegenseitig inspiriert haben. Sie sind in der gleichen Zeit entstanden und der Kasperli jedenfalls ist annähernd die gleiche Figur. Ganz abgesehen davon, dass es in beiden Produktionen ganz ähnliche Catchphrasen gibt: «Potz Holzöpfel und Zipfelchappe!» in der einen, «Potz Pulverdampf und Pistolenrauch» in der anderen.
Und als ob damit noch nicht genug wäre: Ich habe eine weitere Variante gefunden. Die heisst auf Youtube einfach «Alte Version». Sie scheint ungefähr von 1970 zu stammen, mit Hans Baur als Erzähler, und damals von Philips verlegt worden zu sein. Schliesslich gibt auch eine Hörbuchversion mit dem Originaltext, gelesen von Armin Rohde, die man auch bei Spotify findet.
Beitragsbild: Ausschnitt aus dem Buchcover, thienemann-esslinger.de, Pressedownloads