Ein Spotify-Feature, auf das die Welt nicht gewartet hat

Der Streaming­dienst setzt uns von manchen Songs neuer­dings auch die Musik­vi­deos vor. Diese Neue­rung ist an­nähernd nutzlos: Erstens ist sie schlecht um­ge­setzt. Zwei­tens sind Musik­videos ein Re­likt der Ver­gangenheit.

Neulich ist fiel mir auf, dass in der Spotify-App bei manchen Songs nebst der Audioversion auch das Musikvideo angezeigt wird. Eine Recherche ergab, dass der Streamingdienst diese Neuerung bereits vor einem Jahr eingeführte.

Die Vermutung steht im Raum, dass ich ein bisschen begriffsstutzig bin, weil ich so lange brauchte, um von den Videos Notiz zu nehmen. Zu meiner Verteidigung kann ich mehrere Dinge anführen:

  • Erstens kam das Videofeature in der Schweiz erst Mitte Oktober 2024 an.
  • Zweitens scheint der Anteil der Titel mit Video im Katalog sehr gering zu sein. In der Playlist meiner Top-Songs von 2023 gibt es hundert Songs, aber nur zwölf davon werden als Video angeboten. Eine Quote von … lasst mich rechnen … zwölf Prozent.
  • Drittens ist das Feature schlecht implementiert. In der Liste meiner Favoriten (Liked Songs), die ich oft nutze, erscheint das kleine Video-Symbol überhaupt nicht.¹

Warum ständig diese Pferde?

Sind die Musikvideos ein Feature, auf das die Welt gewartet hat?

Dummerweise ist der erste Titel, mit dem ich es ausprobiere, 1000 Vies von Stephan Eicher:

In diesem Song hockt der Mann permanent auf einem Pferd. Was ändert, ist die Landschaft, durch die er reitet. Das soll vermutlich die tausend Leben versinnbildlichen, die nicht gänzlich unterschiedlich sind, sondern durch eine Konstante verbunden werden. Und die ist … naja, das Pferd.

Tue ich diesem sehr geschätzten Künstler unrecht, wenn ich diese filmische Umsetzung für grobschlächtig halte?

Nein. Aber wir müssen nicht weiter auf diesem Pferd herumreiten, auch wenn es Herr Eicher selbst tut – er hockt nämlich auch in Combien de Temps auf einem Schimmel.

Schlimmer als eine Literaturverfilmung

Aber wir sollten über meine These sprechen, die sich an dieser Stelle aufdrängt: Nämlich, dass Musikvideos den Songs in der Regel nicht gerecht werden. Wir kennen diesen Effekt von Literaturverfilmungen, bei denen wir uns mit unseren eigenen Vorstellungen der Geschichte in den Kinosaal setzen, bloss um festzustellen, wie sehr die mit dieser fremden Umsetzung kollidieren.

Bei Musikvideos ist die Diskrepanz zwischen unseren inneren Bildern und dem Clip auf dem Bildschirm noch viel grösser. Mit dem Lieblingssong im Ohr erhalten wir Bilder vorgesetzt, die wenig oder nichts mit den Gefühlen und Erfahrungen zu tun haben, die wir zur Musik assoziieren. Die Magie eines guten Popsongs liegt darin, dass er als persönlicher Soundtrack zu unserer persönlichen Geschichte erklingt und uns Raum für die ureigenste Interpretation lässt. Dieser Freiheit werden wir durch den Videoclip beraubt. Schliesslich zeigt er uns die «offizielle» Deutung, in der die Künstlerin oder der Künstler selbst auftritt.

Drei Einwände:

  1. Wer mit dem Musikfernsehen aufgewachsen ist und seine Lieblingssongs auf MTV kennengelernt hat, der mag das ganz anders empfinden. Die Musikfernsehgeneration erlebt Song und Clip als Einheit, so vermute ich.
  2. Es ist natürlich möglich, dass die im Video gebotene Interpretation nicht unserer eigene konkurrenziert. Beide könnten gleichberechtigt nebeneinanderstehen.
  3. Das Video kann ein Kunstwerk für sich sein. Beispiele sind «Thriller» von Michael Jackson und vor allem «Sledgehammer» von Peter Gabriel.

Aber weil ich in so schöner Laune zum Stänkern bin, halte ich auch hier dagegen: Ist es nicht schade, wenn uns das Musikfernsehen (1) uns um die Chance bringt, uns einen Song mittels Fantasie anzueignen?

Bei Spotify fehlt der Vorschlaghammer

Und wirklich grossartige Musikvideos (2, 3) sind selten. «Thriller» hat keine besonders tiefschürfende Bedeutung und Michael Jackson will ich grundsätzlich nicht mehr zuhören. «Sledgehammer» ist eher die Ausnahme, denn die Regel. Und, nebenbei bemerkt: Warum ist ausgerechnet «Sledgehammer» bei Spotify nicht als Video abrufbar?

Vor allem aber wurden diese Clips mit viel Aufwand produziert. Musikvideos, bei denen geklotzt und nicht gekleckert wird, können eher eine mehrdeutige, verklausulierte und damit eigenständige Botschaft übermitteln. Es braucht auch allein deswegen viel Geld, damit bei sorgfältig produzierter Musik kein Stilbruch zwischen Ton- und Bildspur entsteht. Doch ohne ein Experte in dem Metier zu sein, ist mein Eindruck, dass nur eine Handvoll der grossen Superstars ein ordentliches Budget für ihre Produktionen zur Verfügung haben. Die typische Indie-Band dreht mithilfe von Freunden und Bekannten und mit jenem Regisseur, den sie aus der Kneipe kennen.

Fazit: Musikvideos sind ein Relikt der Vergangenheit. Genauso wie das Musikfernsehen haben sie ihren Zenit überschritten. Heute umso mehr, wo zufolge der künstlerische Aspekt weiter in den Hintergrund rückte. Stattdessen dient das Video der Promotion und als Futter für die sozialen Medien. Sollten sie nach dem Niedergang von MTV und Konsorten wegen Spotify einen zweiten Frühling erleben, dann spricht das nicht für das Musikvideo als künstlerische Gattung, sondern bloss für meine These, dass Spotify und Tiktok die Musik kaputt machen.

Fussnoten

1) Dieser «Bug» wurde noch vor Veröffentlichung des Blogposts geflickt.

Beitragsbild: Das war sicher schon oft in der Wäsche (Abhishek Shekhawat, Pexels-Lizenz).

One thought on “Ein Spotify-Feature, auf das die Welt nicht gewartet hat

  1. Ich mag Musikvideos! Schlechte/langweilige Videos, wie die Pferdeorgien von Eicher, gab es leider schon immer. Auch früher waren primär die Videos für potentielle Single-Hits aufwändig(er) produziert.

    Schweizer KünstlerInnen sind auch vor 20 oder 30 Jahren schon damit aufgefallen, dass meist ein befreundeter Kerl, der zufällig im Besitz einer Videokamera war, für lau oder eine Flasche Wein ein meist ziemlich grausames Video erstellt hat. Eine Budgetfrage halt.

    Heute kommt erschwerend hinzu, dass alle Tracks eines Album (wenn es denn noch eines gibt), auf Spotify zu hören sind. Klar, gibt es normalerweise nicht zu jedem Song ein Video. Die MTVs von früher haben aber fast immer auch nur aktuelle Hitparaden, Genre-Hitparaden oder vergangene oder mögliche künftige Hitparaden gespielt. Musik-TV und Spotify so miteinander zu vergleichen hinkt also meines Erachtens gewaltig. Ich finde es ein nettes Feature, zu einem Song der mir gefällt, auch mal wieder ein Video schauen zu können.

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