Kann man den Künstler von seinem Werk trennen? Diese Frage stellt sich immer dann, wenn man es mit einem Menschen zu tun bekommt, der Grossartiges schafft, aber einen unschönen Charakter besitzt. Oder noch schlimmer: Der nicht nur tolle Werke kreiert, sondern auch unhaltbare Positionen vertritt oder sogar Verbrechen begeht. Mit so jemandem würde man nichts zu tun haben wollen, wenn er eben nicht diese andere, grossartige Seite hätte.
Die Frage beschäftigt immer mal wieder. Denn es kommt ab und an vor, dass man in der Klatschpresse Dinge über Leute liest, die man eigentlich mag. Horst Tappert ist so ein Fall: Ich habe schöne Erinnerungen, wie ich als Teenager zusammen mit meinem Grossvater «Derrick» geschaut habe. Diese Krimiserie war es, die mich ans Genre herangeführt hat. 2013 kam heraus, dass der Schauspieler Mitglied der Waffen-SS gewesen war.
Aber auch noch Karriere machen?
Natürlich – niemand von uns weiss, ob er nicht selbst Mitglied der Waffen-SS geworden wäre, wenn er unter den gleichen Umständen aufgewachsen wäre wie Horst Tappert. Wir reden uns gern ein, dass wir alle geborene Widerstandskämpfer sind – doch wir haben das grosse Glück, dass wir diese Vermutung nicht unter Beweis stellen müssen. Allerdings ist die Mitgliedschaft in der Waffen-SS mit reiner Mitläuferschaft nur schwer zu vereinbaren. Ohne die «richtige» Gesinnung hat man dort keine Karriere gemacht. Tappert allerdings ist zum Grenadier aufgestiegen. Auch das wäre vielleicht irgendwie zu verzeihen, wenn der Mann Reue gezeigt und sich erklärt hätte. Doch das hat er nicht – er hat es verschwiegen.
Zweiter Fall: Charlie Chaplin. Auch er hat mich schon als Jugendlicher mit Modern Times, aber vor allem mit The Great Dictator beeindruckt. Ich erinnere mich, wie mich dieser Film in den Bann geschlagen hat. Er hat mir verständlich gemacht, welche Wirkung ein Film haben kann – abseits von Die nackte Kanone, oder was wir in den 1980er-Jahren sonst noch gesehen haben.
Dann habe ich gelesen, dass Charlie Chaplin ein sadistischer Tyrann war, der auf Teenager stand. Und ja, man darf nicht den Fehler machen, den Schauspieler mit der Rolle gleichzusetzen. Aber trotzdem – Chaplin war mehr als ein Schauspieler, er war die Seele eines Films wie «The Great Dictator».
Oder Eric Clapton, der in den Rassismus und die Schwurblerei abgeglitten ist.
Verurteilt wegen Totschlags
Neulich hat mich die Frage, wie man den Künstler von seinem Werk trennt, wieder beschäftigt. Ich habe einige Dinge über Bertrand Cantat gelesen, den Sänger von Noir Désir. Die gehört zu meinen ewigen Lieblingen; die Platte Tostaky von 1992 zähle ich zu jenen zehn, die ich auf die einsame Insel mitnehmen würde. Cantat hat 2003 in einem Anfall von Eifersucht seine Freundin Marie Trintignant in Vilnius zu Tode geprügelt und wurde wegen Totschlags zu acht Jahren Haft verurteilt, von denen er drei abgesessen hat.
Bei Horst Tappert kann man es sich einfach machen: «Derrick» hat sich überlebt; die Krimiserie wirkt aus heutiger Sicht spiessig, hochnäsig und nicht mehr zeitgemäss. Eine Folge aus Nostalgie anzuschauen, ist nicht verboten, dürfte aber vor allem die Frage aufwerfen, was einen damals so begeistert hat.
Bei Chaplin kann man sich (vielleicht) mit der Floskel aus der Verantwortung stehlen, dass dem Genie auch Wahnsinn innewohnt und die Bedeutung des «ersten Weltstar des Kinos» seine privaten Abgründe überstrahlt. Bei diesem Akt der Verdrängung hilft uns auch die Tatsache, dass vieles davon im Dunkeln geblieben ist, weil damals medial und sozialmedial nicht in jede Ecke geleuchtet worden ist.
Verdrängen ist keine Option
Aber was ist mit Bertrand Cantat? Verdrängung ist keine Option, weil der Mann verurteilt wurde. Seine Tat wiegt schwer, weil sie in eine Zeit fällt, wo wir gerade beginnen, die Existenz häuslicher Gewalt zu enttabuisieren und in ihrem ganzen Ausmass zu erkennen. Da kann man nicht hingehen und sie wegwischen.
Aber kann man die Musik weiterhin anhören, im Wissen um die Tat? Diese Frage ist die eigentlich entscheidende, und sie ist umso schwieriger, weil derzeit sofort das Totschlagargument Cancel Culture in die Arena geworfen wird. Dieser Logik folgend, würde das eine Lager fordern, dass man Noir Désir nicht mehr hören darf, weil das (überspitzt gesagt) frauenfeindlich wäre. Das andere Lager würde fordern, dass man die Musik erst recht hören muss, um nicht dem woken Terror zu erliegen – oder so ähnlich.
Beides ist Quark, weil es bloss darum geht, ob ich selbst die Musik noch hören mag. Ist die Kunst noch valide? Im Fall der Autorin, die einen Ratgeber geschrieben hat, wie man den Ehemann ermordet, um dann ihren Ehemann zu ermorden, bleibt alles stimmig. Kein Grund, sich Gedanken zu machen.
Nein, im Ernst: Ich habe bei mir festgestellt, dass es eine Rolle spielt, wie sehr das Wissen um die Abgründe eines Idols mein bisheriges Bild ins Wanken bringen. Eric Claption, der mit der Musik der schwarzen Sklaven weltbekannt geworden ist und sich rassistisch äussert, bringt mich dazu, lieber schwarzen Blues zu hören.
Ein weiteres Beispiel dieser Art ist Michael Jackson. Ich war zwar nie ein sonderlicher Fan, sodass es mir keinen allzu grossen Verzicht bereitet, ihn nicht mehr zu hören. Aber genau das tue ich, nachdem ich die Doku Leaving Neverland gesehen habe. Denn von «Heal the World» singen und systematisch Kinder sexuell zu missbrauchen, das ist nach meinen Vorstellungen durch und durch unvereinbar.
Keine Entschuldigung, sondern eine Warnung
Nun könnte man daraus ableiten, dass die gewalttätige Seite von Bertrand Cantat nicht ganz so unvereinbar ist mit seiner Musik. Die lebt davon, dass man die unbändigen und destruktiven Gefühle ahnt, die unter der Oberfläche brodeln. Das sollte man nicht als Entschuldigung verstehen, sondern als Warnung. Ein Hörer, bei dem diese Musik eine Saite zum Schwingen bringt, der darf das als Einladung verstehen, in seine eigenen Abgründe zu blicken.
Beitragsbild: Die mögen nicht mehr (Liza Summer, Pexels-Lizenz).
Eine ganz schwierige Frage, über die ich auch gelegentlich nachdenke, ohne bisher zu einem klaren Ergebnis gekommen zu sein. Wenn man den Künstler nicht von seinem Werk trennt, welchen Massstab legt man dann an sein Verhalten an? Wenn einer vor zwanzig Jahren seine Frau zu Tode geprügelt hat, ist der Fall klar, das war moralisch falsch und zur Tatzeit verboten.
Aber was ist mit einem Wagner? Ein glühender Antisemit, aber damals war Antisemitismus keine abwegige Einstellung.
Oder Alfred Escher? Genialer Visionär, aber wie gleichgültig er mit dem Leben seiner Arbeiter umgegangen ist, ist schockierend. War aber damals legal und üblich, die Polizei hat bei einem Streik sogar auf seine Arbeiter geschossen.
Oder dann die Kirchen in den Städten in Norditalien? Der Markusdom wurde gebaut wohl von Sklaven oder zumindest von Leuten, denen man Unheil angedroht und ihnen per Ablassbrief noch das letzte Geldstück weggenommen hat. Gebaut wurde er, um die auf Kreuzzügen in Alexandria geraubten Gebeine auszustellen.
Es ist wirklich schwierig, eine Grenze zu ziehen, ohne sich die Freude an Kunst und Kultur zu nehmen. Vielleicht beschränkt man sich auf die noch lebenden Künstler und äussert seine Meinung zu ihrem Verhalten mit dem Portemonnaie, geht also nicht ans Konzert eines Schlägers?