Am Mittwoch habe ich eine Pressemeldung von Spotify bekommen: Unter dem Titel Loud & Clear 2025 gibt es Zahlen zum Musikstreaming und zum Geld, das das Unternehmen im letzten Jahr an die Künstlerinnen und Künstler überwiesen hat.
Und vor allem gibt es sehr viel Eigenlob. Spotify stellt sich als Heilsbringer für die Musikbranche dar. Ist das gerechtfertigt? Ich fühle mich bemüssigt, vier der Aussagen einer kritischen Betrachtung zu unterziehen.
Behauptung 1: Nie hat jemand mehr Geld an die Künstler verteilt als Spotify
Kein anderer Streaming-Dienst oder Einzelhändler hat 2024 mehr an die Industrie ausgeschüttet als Spotify. Darüber hinaus stellt die Ausschüttung von zehn Milliarden US-Dollar einen historischen Rekord dar – mehr als je ein Anbieter in einem Jahr ausgezahlt hat und mehr als zehnmal so viel wie der grösste Plattenladen auf dem Höhepunkt der CD-Ära.
Die erste Frage, die wir hier klären müssen, ist folgende: Welches war der grösste Plattenladen auf dem Höhepunkt der CD-Ära? Und ist ein einzelner Laden gemeint oder eine Kette?

Ich bin kein Experte für Musikvertrieb, aber meines Erachtens kommen Tower Records in den USA oder HMV in Grossbritannien infrage. Bei letzterem habe ich, glaube ich, sogar einmal eine CD gekauft.
Jedenfalls fragen wir uns, ob der Vergleich stimmt und ob er statthaft ist. Dröseln wir das auf:
- Spotify hat einen Marktanteil von 31,7 Prozent am globalen Streamingeschäft.
- Tower Records erzielte 1999 einen Umsatz von einer Milliarde US-Dollar und betrieb ungefähr 200 Läden in 15 Ländern.
Wie gross Tower Records im gesamten Musikmarkt war, ist schwer zu sagen; der Umsatz der Musikindustrie belief sich damals auf ungefähr zwölf bis 14 Milliarden US-Dollar. Über den Daumen gepeilt setze ich ihn bei sieben Prozent an. Auf Spotifys Grösse hochgerechnet, ergäbe das einen Umsatz von 4,5 Milliarden Dollar. Inflationsbereinigt kommen wir auf 8,6 Milliarden.
In absoluten Zahlen stimmt die Rechnung: Spotify schlägt Tower Records. Doch ist auch die implizite Botschaft zutreffend?
Zwischenfrage: Sind die Verdienstmöglichkeiten heute tatsächlich besser?
Die Medienmitteilung insinuiert, dass Künstlerinnen und Künstler dank Spotify mehr Geld bekommen, als das selbst in der goldenen Ära der CD der Fall war. Doch um dies zu beweisen, taugt der Vergleich nicht. Es werden hier offensichtlich Äpfel mit Birnen verglichen, weil ein Plattenladen Tonträger verkauft, Spotify aber Vergütungen pro Wiedergabe entrichtet. Wie würde man überhaupt objektiv vergleichen wollen, ob es Künstlerinnen und Künstlern heute besser geht als zu Zeiten der CD?
Einen Hinweis könnte eine Studie der deutschen Verwertungsgesellschaft Gema liefern, über die «Die Welt» 2022 berichtete:
Demnach kommen die Musikschaffenden auf einen Anteil am Nettoumsatz von 22,4 Prozent (1,80 Euro bei einem Monatsabo zu 9,99 Euro), die jeweilige Plattform auf die bereits genannten dreissig Prozent und die Musiklabels auf den grössten Anteil von 42,4 Prozent. Musikverlage liegen bei nur 5,3 Prozent. «Der Songwriter wird nur minimal am Streaming seiner Musik, von der er der Urheber ist, finanziell beteiligt», zitiert dazu die Studie die Komponistin Helienne Lindvall: «Für das Geld, das ein Songwriter früher aus dem Verkauf von 1000 Platten bekommen hat, muss sein Song heute mehrere Millionen mal gestreamt werden.»
Wenn wir uns an dieser Stelle in die Haut eines Schweizer Songschreibers versetzen, dann durfte er 1999 damit rechnen, tausend Platten zu verkaufen. Mehrere Millionen Streams sind heute eine viel höhere Hürde. Einer der bekanntesten Schweizer Mundartkünstler ist Baschi und dessen Top-Song «Wenn Du das Lied ghörsch» ist bei Spotify mit knapp 938’000 Plays noch darunter.
Zu der Gema-Studie heisst es weiter:
Gleichzeitig steigt die Zahl der verfügbaren Titel, was bei nahezu gleichbleibenden Abopreisen zu einem Rückgang des Umsatzes pro Stream geführt hat. Der Umsatz, den eine Plattform mit 1000 gestreamten Songs macht, soll von 10,58 Euro (im Jahr 2016) auf 8,12 (im Jahr 2021) gefallen sein.
Auch diese Aussage steht im diametralen Widerspruch zu Spotifys Botschaft, der Geldsegen für die Musikerinnen und Musiker sei so üppig wie noch nie.
Behauptung 2: Die Einnahmen haben sich vervielfacht
In der «Loud & Clear»-Pressemeldung steht auch das:
In den letzten zehn Jahren haben sich die Tantiemen des 100’000sten Platzes der Künstler*innen auf Spotify mehr als verzehnfacht – von deutlich unter 600 US-Dollar im Jahr 2014 auf fast 6000 US-Dollar im Jahr 2024.
Auch diese Aussage will uns vermitteln, es habe eine massive Lohnerhöhung für die Künstlerinnen und Künstler gegeben. Es sind jedoch auch zwei andere Interpretationen möglich:
- Sollte sich die Gesamtzahl der Künstler massiv erhöht haben, wären die Einnahmen für alle im Schnitt geringer als früher.
- Wir wissen nichts über die Verteilung der Tantiemen: Wenn die Ungleichheit grösser geworden ist, dann verdient eine Minderheit in den oberen Rängen zwar mehr, die Mehrheit im unteren Bereich aber weniger.
Bemerkenswert finde ich vor allem die Information, die nach dem Gedankenstrich steht: Auch eine Verzehnfachung der Tantiemen seit 2015 hat einen Betrag von mickrigen 6000 Dollar zur Folge. Das wäre im Monat für einen Einzelkünstler gerade noch akzeptabel, aber aufs Jahr gerechnet zahlt eine Band damit gerade mal die Miete für den Übungskeller.
Man kann diese Aussage daher als Beleg für die prekären Lebensverhältnisse der Menschen nehmen, von denen Spotify lebt: Es gibt etwa elf Millionen Künstlerinnen und Künstler auf der Plattform. Auf dem 100’000. Platz gehört man zum obersten Prozent des globalen Musikschaffens. Und trotzdem ist man weit entfernt, von dieser Arbeit leben zu können.
Behauptung 3: Viel mehr Künstler verdienen heute Geld
Weiter geht es mit der Selbstbeweihräucherung:
Auf dem Höhepunkt der CD-Ära hatte Tower Records insgesamt nur 50’000 CDs von Tausenden von Künstler*innen im Sortiment (Quelle). Heute hingegen erwirtschaften allein auf Spotify über 100’000 Künstler*innen Tausende von Tantiemen.
Jetzt wissen wir, dass Spotify tatsächlich mit Tower Records disst. Da die Plattenladenkette 2006 bankrottging, müssen die Schweden keine Klagen fürchten.
Wie auch immer, der Vergleich hier soll wiederum suggerieren, dass dank Spotify viel mehr Leute Geld verdienen als früher in der CD-Ära. Das ist natürlich blanker Unsinn, weil wieder Verkäufe von Tonträgern mit der Vergütung von Streaming-Wiedergaben verglichen werden.
Nicht nur das: Musikfreunde und -freundinnen konnten im Plattenladen eine Platte bestellen, wenn sie nicht vorrätig war. Das Sortiment hat sich natürlich über die Zeit auch verändert und in den einzelnen Läden unterschieden. Warum der Vergleich aber so entsetzlich hinkt, liegt an der Tatsache, dass früher eine lebendige Szene an Plattenläden existierte. Es gab nicht nur Tower Records, sondern auch spezialisierte Geschäfte für die unterschiedlichsten Geschmäcker, in denen auch Raritäten zu finden waren.
Diese Aussage lässt sich hier hervorragend gegen Spotify münzen: Heute haben ein paar wenige Streamingdienste eine Quasi-Monopolstellung inne. Mit negativen Konsequenzen: Songs, die aus den Wiedergabelisten verschwinden, hören quasi auf zu existieren. Das ist kein theoretisches Problem: Es kommt immer wieder vor, dass Songs aus Wiedergabelisten verschwinden.
Behauptung 4: Die Vielfalt ist so gross wie nie

Ein weiterer Punkt – und das ist der letzte, den ich hier zerlege, versprochen! – soll belegen, dass die Vielfalt im Katalog laufend zunimmt:
Die Künstler*innen, die mindestens eine Million US-Dollar auf Spotify verdient haben, nahmen im Jahr 2024 Musik in 17 verschiedenen Sprachen auf. Das ist mehr als doppelt so viel wie im Jahr 2017. Die Künstler*innen, die mindestens 100’000 US-Dollar an Tantiemen erwirtschaftet haben, nahmen Musik in mehr als 50 Sprachen auf – ebenfalls mehr als doppelt so viele Sprachen wie im Jahr 2017.
Dass die Vielfalt so gross wie nie ist, glaube ich Spotify natürlich. Diese Feststellung ist jedoch eine Banalität. Eine Zunahme der Vielfalt ist unvermeidlich, weil der Katalog jedes Jahr grösser wird.
Wenn wir genau hinschauen, wächst die Vielfalt auf extrem niedrigem Niveau: Es gibt weltweit 7159 Sprachen. Das heisst, dass 7143 Sprachen bzw. 99,78 Prozent von Künstlerinnen und Künstlern vertreten werden, die keine Chance haben, eine Million US-Dollar zu verdienen. Was, nebenbei bemerkt, nicht sonderlich viel Geld ist, wenn man eine Band als KMU betrachtet, bei dem nicht nur die Bandmitglieder einen Lohn benötigen, sondern auch Betriebsaufwände anfallen und weiteres Personal bezahlt werden will.
Das zeigt vor allem, wie extrem die Musikindustrie auf den internationalen Markt fixiert ist, die englische Sprache bevorzugt und einen globalen, uniformen Stil fördert. Das ist nicht Spotifys Schuld. Allerdings gibt es auch keinen Grund, hier irgendwelche Verdienste zu postulieren. Spotify tut nichts für eine grössere kulturelle Diversität. Prahlen wäre angebracht, wenn es ein Förderprogramm gäbe, mit dem der Streaminganbieter Künstlerinnen und Künstler unterstützt, die für ihren Kulturkreis identitätsstiftend, aber nicht kompatibel zum globalen Musikgeschmack sind.
Fazit: Das tut dem wahren Musikfan weh
Ich finde es extrem unsympathisch, wie Spotify die Gegenwart gegen die Vergangenheit ausspielt. Und klar, mir ist der Zweck einer Medienmitteilung bewusst; nämlich zu prahlen, was das Zeug hält.
Aber erstens ist mir die Argumentation hier zu manipulativ.
Zweitens klingt sie mir zu sehr nach der Disruptionslust des Silicon Valley: Alles, was vorher war, ist nur dazu da, um zerstört zu werden – und wenn es schon zerstört ist, dann wird es noch schlechtgeredet. Wenn bei Spotify Leute arbeiten würden, die ein Herz für Musik hätten, dann würden sie zwar auf die Vorteile des digitalen Zeitalters hinweisen. Doch sie würden das im vollen Bewusstsein tun, wie viel Tolles seitdem auch verloren gegangen ist: Das Stöbern in Plattenläden etwa, die signierten Alben und das Hochgefühl, wenn wir es nach langer Suche geschafft haben, eine Rarität auszutreiben.
Beitragsbild: Das war nicht so schlimm, wie Spotify behauptet (Maria Tyutina, Pexels-Lizenz).
Für unbekannte Musiker ist Spotify meist nachteilig. Früher hat man (teilweise selbst gebrannte) CDs an Konzerten für CHF 20 – 25 verkaufen können, heute hat man vielleicht 10000 Streams, was sich finanziell überhaupt nicht auszahlt.
Dafür hat man die (kleine) Chance, auf einer grossen Playlist zu landen und seine Reichweite massiv steigern zu können.
Von allen Streaming-Plattformen bietet Spotify mit Abstand am meisten Funktionen für Bands an und die Discoverability für kleine Bands ist massiv höher. Dass CDs vorbei sind und Streaming verbreitet ist nicht Spotifys Schuld – es ist ein logischer Schritt in der digitalen Gesellschaft. Und OK. Es landen weniger CDs als Abfall im Band-Keller. Spotify hat allerdings massgeblich mitbestimmt und den Leuten angewöhnt, dass Musik ca. 10.-/Monat wert ist, was offenbar nicht richtig funktioniert. Im CD-Zeitalter hat man häufig mehrere CDs im Monat gekauft für je 25.-. Man muss das Spotify-Abo rein als Infrastruktur-Abo ansehen – wie wenn man einen Plattenspieler mietet und andere Wege finden, die Künstler zu unterstützen, die man mag.
Gute Perspektiven, die Vielen nicht bewusst sind. Es reicht nicht, ein Spotify-Abo zu bezahlen um zu denken, man würde damit Künstler:innen fair bezahlen für die Streams, die man hört. Obwohl dieser Schein vermittelt wird. Kommt dazu, dass die grossen Labels andere Verträge mit Spotify haben und ihre Artists so deutlich mehr pro Stream verdienen als die Kleinen.
Spotify & Co. könnten die KünstlerInnen durchaus fair bezahlen, wenn sie wollten. Sie müssten nur die Einnahmen pro Land anteilsmässig gerecht auf die länderspezifischen KünstlerInnen verteilen. Spotify weiss ja auch garantiert, auf welche Länder sich meine Streams aufteilen. So müssen 20’000 Streams in der Schweiz z.B. gleich viel abwerfen, wie ca. 200’000 Streams in DE oder 600’000 Streams in den USA. Aber wenn man natürlich von der Gleichung „Welt = 1“ ausgeht, kacken natürlich alle KünstlerInnen mit relativ exotischen Sprachen und aus kleineren Ländern ab, obwohl sie lokal vielleicht sehr erfolgreich sind. So regiert die momentan leider äusserst erfolgreiche Methode „The Winner(s) Takes It All“ … und „der Starke gewinnt“. Bullying auf dem weltweiten Musikmarkt…!