Bill Gates und seine epochale Zürcher Fehlprognose

2002 hat Microsofts Chef­ent­wick­ler bei uns seinen Master­plan vor­ge­legt, mit dem er seine Do­mi­nanz aufs Inter­net und die mo­bile Welt aus­zu­deh­nen gedachte. Es ist nicht über­trie­ben, von einer epo­cha­len Fehl­ein­schätzung zu sprechen.

Beitragsbild: Bill Gates 2006 bei einem Vortrag an der University of Waterloo in Kanada – und nebenbei ein Hinweis auf die Qualität digitaler Kameras damals (Mohammad Jangda/Flickr, CC BY-SA 2.0).

Bill Gates – den habe ich einmal persönlich getroffen. Naja, «getroffen» ist etwas hochgegriffen. Ich habe ihm nicht die Hand geschüttelt und ihm nicht jovial auf die Schulter klopfend mitgeteilt, dass seine Software zwar nicht über alle Zweifel erhaben sei, mir sein Verständnis von gnadenlosem Kapitalismus aber Eindruck mache.

Immerhin war ich im gleichen Raum mit ihm und war bei einer Präsentation zugegen, als Gates am 5. Februar 2002 in Zürich war. Man warnte uns damals, überhaupt den Kopf zu recken. Denn in den schattigen Bereichen des Saales lauerten die Bodyguards, die bei jeder verdächtigen Bewegung herbeigestürzt wären: Vor Ort war schliesslich der reichste Mann der Welt, dem niemand ein Ohr abschiessen sollte.

Gates war 2002 nicht mehr Chef bei Microsoft, aber Aufsichtsratsvorsitzender und Chefentwickler. Er beehrte uns damals, um uns seine Zukunftspläne darzulegen. 22 Jahre später muss die Frage erlaubt sein, was daraus geworden ist.

Ich darf die Antwort vorwegnehmen: Die Vision war hanebüchener Unsinn. Dass Microsoft heute noch relevant ist – und der Aktienkurs in den letzten gut zehn Jahren mehr als verzehnfacht hat –, ist nicht das Verdienst von Bill Gates und auch nicht von Steve Ballmer. Es war Satya Nadella, der seit einer Dekade der Boss ist, und dem ich auch einmal begegnet bin.

Gates ohne Vertrauen in seine Tablet-Strategie

In einem Punkt hatte Gates damals recht: Das Betriebssystem würde nicht ewig der Geldesel bleiben, der es damals war. Doch schon bei der Einschätzung zu dessen Zustand lag er falsch. Er hielt Windows für fertig entwickelt, das Potenzial zum Verkauf weiterer Updates für gering. Das ist entlarvend, weil Microsoft nur gut ein halbes Jahr später mit einer Windows-Variante mit Handschrifterkennung für Tablet-PCs auf den Markt kam. Gates glaubte bei seinem Besuch offensichtlich nicht, dass die Windows-XP-Tablet-PC-Edition und die neue Geräteklasse für die nächsten Jahre tragen würden.

Und das taten sie auch nicht. Für die mobile Revolution brauchte es Apple, das iPhone und das iPad. Das Hin und Her bei den Windows-Versionen 8 bis 11 und das Debakel um Windows Mobile zeigt, wie gross die Fehleinschätzung am Anfang der Nullerjahre war.

Das Internet untertan machen

Was Bill Gates damals anstrebte, war eine Handhabe, sich das Internet untertan zu machen. Anstelle simpler Websites sollten die Nutzerinnen und Nutzer etwas nutzen, das damals mit «reichhaltige Webdienste» umschrieben wurde. So nannte ich es in meiner Übersetzung, Gates dürfte von «rich content» oder «rich media» gesprochen haben: Genau die Wortwahl, die auch bei Adobe zu hören war, als dieser Konzern seine Flash-Technologie als Ersatz von HTML in den Markt drücken wollte, weil aus Sicht eines Softwarekonzerns eine proprietäre Technologie anstelle offener Standards natürlich viel lukrativer ist.

Das Mittel der Wahl war damals – und das kommt jetzt sicherlich für viele überraschend, die noch nie davon gehört haben – .net. Es handelt sich um ein Bündel von Technologien, mit denen sich interaktive Anwendungen bauen lassen, die auch auf mobilen Geräten funktionieren. Insofern hatte Gates die Handys und PDAs schon auf dem Schirm. Sein Beispiel, wie das konkret funktionieren sollte, lautete folgendermassen:

Bei einer Lösung, die Microsoft mit Fleurop Schweiz realisierte, werden die in Microsofts Passport-Kalender gespeicherten Geburts- und Hochzeitstagdaten mit dem Angebot des Online-Blumenhändlers kombiniert, sodass sich der Benützer nicht mehr um ein Geschenk bemühen muss, sondern im Ereignisfall aufgefordert wird, die geeignete Schenkaktion in die Wege zu leiten.

Eine zu komplizierte Kopfgeburt

«Dot net», wie sich diese Technologie umgangssprachlich nannte, war eine Kopfgeburt: Kompliziert, mit einer steilen Lernkurve, viel Microsoft-typischem Overhead und Kompatibilitätsproblemen. Kein Wunder, dass sich nicht durchgesetzt hat.

Ich gehe so weit, sie als krachend gescheitert zu bezeichnen. Andere mögen das anders sehen. Aber wenn das Resultat an den Worten von damals messen, dann ist kein anderes Urteil möglich: Das Web läuft heute mit Python, Javascript und all diesen Frameworks, mit Rust, Ruby on Rails, Node.js, und selbst das angerostete PHP ist viel präsenter als .net, das in grösseren Unternehmen noch eine Rolle spielen mag.

Fazit: Gates hat sich verkalkuliert. Er hat seine Technologie als offen und bestens verträglich mit der Open-Source-Welt verkauft. Aber die Welt hat diese Mogelpackung durchschaut und den Köder nicht geschluckt – die wirklich offenen Systeme haben gewonnen. Gates kann sich damit trösten, dass Microsoft mit Azure die Kurve doch noch gekriegt hat. In der Cloud dominiert der Konzern zwar nicht, aber er verdient gutes Geld. Und ein paar Überreste von .net leben mit Azure fort.

👉 Bill Gates hat noch andere Müsterchen seines diskutablen Weltbilds abgeliefert. Eine zweite Auseinandersetzung nehme ich im Beitrag Bill, was für ein Bullshit! vor.

3 Kommentare zu «Bill Gates und seine epochale Zürcher Fehlprognose»

  1. Da möchte ich zumindest teilweise widersprechen. Aus .Net ist kein proprietärer Pseudo-Standard geworden, wie es Gates prophezeit hat. Ganz im Gegenteil: Mittlerweile ist es Open Source und die Entwicklungsumgebung Visual Studio ist kostenlos erhältlich.

    Die Mehrheit der neu geschriebenen Software für Windows ist in C# geschrieben. Darunter Office, Exchange Server, aber auch Anwendungen von Drittanbietern, inkl. Spielen (Unity). Auch in Smartphone-Apps steckt .Net. Als Beispiel ist die App der SBB zu nennen, die mit Xamarin (neu .NET MAUI) entwickelt wurde.

    Im Web hat PHP die Nase vorn, was aber auf die grosse Verbreitung von WordPress zurückzuführen ist. Neue Anwendungen entwickelt man mit neuen Konzepten, nicht mehr mit zur Laufzeit interpretierten Scripts. Node.js ist da sicher führend, aber auch .Net Core wird verwendet.

    Für das Frontend haben JavaScript-Frameworks (Angular, React, Vue) mit grossem Abstand die Nase vorn. Aber seit es WebAssembly gibt, nimmt .Net Blazor Fahrt auf. Es ist komfortabel, das Frontend in einer typsicheren Sprache wie C# entwickeln zu können.

    Im Unternehmenseinsatz wird geschätzt, dass bei .Net die Kompatibilität über längere Zeit gegeben ist. Dafür geht es technisch nicht so schnell vorwärts wie bei Angular oder Node.js.

    Zwei Beispiele:

    – AngularJS wurde mit Version 2 in Angular umbenannt. Es war quasi ein neues Produkt. Zweifellos mit vielen neuen Funktionen und ohne Altlasten, aber der Migrationspfad war mehr oder weniger „neu anfangen“.
    – Node.js hat einen Paketmanager zur Verwaltung von Erweiterungen. Diese basieren aufeinander, zum Teil bietet ein Paket nur eine minimale Funktionalität wie das Einfärben von Konsolenmeldungen. Darauf basieren dann tausende Pakete. Das gab schon Sicherheitsprobleme, weil der GitHub-Account eines Entwicklers gehackt und Schadcode ausgeliefert wurde. Vor allem aber gibt es früher oder später Versionskonflikte: Paket A will Paket C mit maximal Version 1.5, Paket B braucht Paket C aber mit mindestens Version 2.0…

    Fazit: Ironischerweise ist .Net weit stärker geworden, als sich Gates das vorstellen konnte. Aber erst, nachdem andere Leute am Ruder waren und das Konzept auf Offenheit umgestellt haben.

    1. Danke für die Differenzierung. Ja, Gates’ Idee war, dass eine native Windows-App via .net mit einem Windows-Server im Netz kommuniziert – Webapps oder der Browser kamen in dieser Vorstellung nicht vor. Ich deute an, dass .net nicht komplett gescheitert ist. Aber wenn sich Gates’ Vision komplett realisiert hätte, würden wir in einer anderen Online-Welt leben. Allerdings kann man sich fragen, ob die dominanten Plattformen im Web nicht ein Beleg dafür sind, dass die gleiche Dominanz-Idee auf andere Weise realisiert wird. Wenn Whatsapp zur Everything-App oder das Metaversum Realität werden sollte, sind wir auch nicht besser dran.

      1. Ja, App-Stores und Plattformen wie Instagram, die keine externen Links mögen, gehen in die Richtung von Gates‘ Vision. Ganz extrem soll es bei WeChat sein. Damit kann man nicht nur Chatten und Bezahlen, sondern auch Einkaufen, Essen bestellen und Arzttermine buchen. Sogar Sachen wie die Stromrechnung seien mittlerweile eingebunden. Verbreitung über 95 %, es führt kaum ein Weg daran vorbei. Horror!

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