Eine fette Lüge, die in den Ohren stecken bleibt

«Listen for the Lie», ein gross­ar­ti­ger, zeit­ge­mäs­ser Krimi von Amy Tin­tera, in dem kein hart­ge­koch­ter De­tek­tiv er­mit­telt, sondern ein Pod­caster. Der taffen Lucy Chase, die die Mör­derin sein könnte, ist der Mik­ro­fon­mann je­doch nicht ge­wach­sen.

Podcaster haben es geschafft: Sie sind in der Popkultur angekommen. Es gibt heute Serien wie «Bodkin», in denen der Podcaster als mehr oder weniger sympathischer kleiner Bruder des Privatdetektivs auftritt. Er hat nicht den unbändigen Aufklärungswillen wie der klassische hartgekochte Schnüffler. Dafür pflegt er seine narzisstische Seite – was ausgezeichnet in eine Zeit passt, wo jeder auf Youtube, Instagram und Tiktok ein Star sein will.

Ein weiterer Beleg für diese Beobachtung ist Listen for the Lie, ein Whodunit-Krimi von Amy Tintera. Sie ist eine junge Autorin, die bislang keine Wikipedia-Seite besitzt, dafür aber umso mehr Talent. Ihr Buch – das es bislang leider nicht als deutsche Übersetzung gibt – hat einen soliden, aber keinen extrem ausgeklügelten Plot. Aber es überzeugt durch seine Erzählweise, seine Doppelbödigkeit und seine bezaubernde Hauptfigur. Und es ist ein aktuelles Buch, dass die aufgeladene Stimmung in einer überdrehten Social-Media-Gesellschaft wunderbar reflektiert, obwohl die Ereignisse hauptsächlich in einem texanischen Kaff namens Plumpton stattfinden.

Podcaster sind die neuen Privatschnüffler

Das Buch gibt es mit zwei unterschiedlichen Coverbildern. Das ist das hübsche.

Und eben: Wo früher ein Detektiv aufgetreten wäre, kommt heute ein Podcaster zum Zug: Ben Owens heisst er, und er hat sich – natürlich! – dem True-Crime-Genre verschrieben. Nachdem es Owens gelungen ist, in der ersten Staffel seines Podcasts tatsächlich einen Fall aufzuklären, versucht er sein Glück in der zweiten Staffel mit einem Mord an einer jungen Frau. Savannah Harper, kurz Savvy genannt, wurde nach dem Besuch einer Hochzeitsfeier tot aufgefunden.

Unter Verdacht steht ihre beste Freundin Lucy Chase. Sie ist die Ich-Erzählerin des Buchs, und sie weiss selbst nicht, welche Rolle sie in der Sache spielt. Sie ging nicht unbeschadet aus den Ereignissen an der Hochzeitsfeier hervor. Lucy trug eine Kopfverletzung davon, die mit einem Gedächtnisverlust einherging. Was sie verdächtig macht, sind Savvys Hautfetzen unter ihren Fingernägeln. Und vor allem die Stimme in ihrem Kopf, die sie ständig zu Gewalttaten auffordert. Kein Wunder, dass Podcaster Ben Owens sie als Hauptverdächtige auserkoren hat und auch ein Social-Media-Mob von ihrer Schuld überzeugt ist.

Die Taschenspielertricks sind verziehen

Klar: Der Gedächtnisverlust ist ein schriftstellerischer Taschenspielertrick. Er erlaubt es, eine an sich simple Geschichte auf spannende Weise zu erzählen – so, wie Amy Tintera es tut. Und sie bedient sich eines weiteren Tricks, den ich oft nicht mag, in «Listen for the Lie» aber gelungen finde: die Rückblende. Wie sich in Schlüsselmomenten Gegenwart und Vergangenheit überlagern, ist schriftstellerisch schön ausgearbeitet. Nebenbei würde sich diese Erwählweise auch hervorragend für eine Verfilmung eignen. Da die Autorin nebst Journalismus auch das Drehbuchschreiben studierte, war das womöglich Absicht.

Trotz des leicht abgenutzten Erzähl-Instrumentariums ist «Listen for the Lie» unbedingt empfehlenswert: Es ist toll, der Heldin bei ihrem inneren Monolog zuzuhören, wie sie sich gegen aussen abgebrüht gibt und es ihr auch vor sich selbst nicht leicht fällt, immer ehrlich zu sein – auch wenn sie es aufrichtig versucht. Aber sie lässt sich nicht einschüchtern. Nicht vom Mordverdacht und nicht vor häuslicher Gewalt.

Tolle Frauen, schlappschwänzige Männer

Amy Tintera: Zum Glück ist sie Autorin und nicht Instagramerin geworden!

Lucy Chase ist eine supercoole Frauenfigur. Das gleiche gilt für ihre Freundin und Mordopfer Savannah Harper. Bei ihr tut es uns Leserinnen und Lesern von Herzen leid, dass wir sie nicht mehr selbst kennenlernen konnten. Nicht zu vergessen Beverly Moore: Sie ist Lucys Grossmutter, von Lucys Schuld überzeugt und trotz eines Alkoholproblems so integer wie kaum jemand in der Familie. Sie fädelt die Begegnung zwischen Lucy und Podcaster Ben ein, weil sie den Umständen zum Trotz überzeugt ist, dass er ihre Unschuld wird beweisen können.

Die Männer kommen weniger gut weg: Ben Owens ist anzurechnen, dass zwar voreingenommen ist, jedoch trotzdem in alle Richtungen recherchiert. Abgesehen davon ist er ein eitler Geck, der Privates nicht von Beruflichem trennt. Matt Gardner, Lucys Exmann, ist ein Alkoholiker, unfähig, aus seinen Verfehlungen zu lernen. Nathan, Lucys Freund, kommt als oberflächlicher, illoyaler Trottel rüber. Und Emmett zählt zu den alten Bekannten Lucys, der der Welt die Schuld gibt, dass er den Absprung aus dem Kaff nicht schaffte.

Diese Familie!

Der Unterschied zwischen denen, die Plumpton hinter sich liessen und denen, die dort geblieben sind, wird bei einer der tollsten Szenen im Buch fassbar: dem Familientreffen anlässlich Beverlys Geburtstag, bei dem auch Familienmitglieder in allen Schattierungen der Antipathie zugegen sind. Mit dieser Feier gelang es der Grossmutter, Lucy zurück nach Texas zu locken. Die wäre nämlich nicht wegen Cousins und Cousinen und nicht einmal wegen der Eltern aufgekreuzt, sondern nur der Oma zuliebe.

Ein Wort zum Hörbuch: Nebst Lucys Stimme hören wir auch Ben – ihn allerdings nur in Form von Ausschnitten aus seinem Podcast. Das führt zu einer eigenwilligen Mischform aus Hörspiel und Hörbuch: January LaVoy spricht (auf grossartige Weise) Lucys Passagen und übernimmt, wie bei Hörbüchern üblich, alle Stimmen. Will Damron ist für die Podcast-Ausschnitte zuständig, die auch als Podcast inszeniert sind. Weil dort January LaVoy auch für die Frauenstimmen zuständig ist, erinnert das eher an ein Hörspiel. Das ist ungewöhnlich, aber okay: Es bleibt dabei, dass Lucy die Geschichte vorantreibt und Ben etwas Würze liefert.

Beitragsbild: Die Lüge gibt es hier zu hören (C D-X, Unsplash-Lizenz).

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