Es war nun wirklich wieder einmal Zeit für ein Buch mit einer Zeitreise – das letzte ist auch schon wieder zwei Jahre her.
Doch wie immer, wenn mich die Lust auf eine Geschichte packt, die das temporale Gefüge durcheinanderbringt, stellt sich eine bange Frage: Erwische ich dieses Mal eine Geschichte, die ein bisschen abgefahren aber nicht zu schräg ist, die nicht dieselben alten Paradoxa bemüht oder ihnen zumindest etwas Neues abgewinnen kann? Das Problem mit diesen Büchern über Zeitreisen besteht darin, dass sie oft die Erwartungen nicht zu erfüllen mögen – und man am Ende der Geschichte gerne zu dem Zeitpunkt zurückkehren würde, an dem man sich unglücklicherweise zur Lektüre entschlossen hat.
Der Autor ist auch sein eigener Verleger
Dieses Mal hatte ich Glück. Ich habe mich für Relive von KJ Nelson entschieden. Der Name des Autors war mir bislang nicht geläufig und seine Website legt die Vermutung nahe, dass er noch nicht lang im Geschäft ist. Es gibt dort nämlich nur einen zweiten Titel namens «Warlord», und Nelson scheint seine Bücher auch selbst digital zu verlegen. Es gibt «Relive» als E-Book für den Kindle und als Hörbuch, aber nicht in gedruckter Form. Dabei wäre es meines Erachtens so gut, dass es auch in ein traditionelles Verlagsprogramm passen würde. Zumindest, wenn dort bereits Titel aus dem Bereich des Fantastischen verlegt werden.
Und ja, natürlich gibt es dieses Buch nicht in Deutsch. Ob es jemals übersetzt werden wird, ist schwer zu sagen. Bei selbst verlegten Büchern ist das eher unwahrscheinlich. Doch wie das Beispiel von Daniel Suarez zeigt, kann aus einem Titel aus dem Eigenverlag auch ein globaler Bestseller werden: Er hat es mir «Daemon» vorgemacht.
Ob das im Fall von «Relive» auch passieren wird, ist schwer zu sagen. Ich attestiere dem Buch Potenzial. Vermutlich reicht es nicht zum Welthit, aber sicherlich zu einem Achtungserfolg. Und meines Erachtens gäbe die Geschichte auch eine gute Science-Fiction-Serie für Netflix ab. Doch ohne die Marketingmaschine eines grossen Verlags liegen die Hürden für den Durchbruch ungleich höher. Da müssen sich die Leser bei den Rezensionen auf Amazon ins Zeug legen und auch in den sozialen Medien für «Buzz» sorgen.
Offensichtlich, wo die Inspiration her kam
Also, zur Geschichte – erst einmal, ohne grosse Spoiler. Die Story erinnert augenblicklich an «Die vielen Leben des Harry August». Das ist das Buch von Claire North alias Catherine Webb, das ich im Beitrag Das ganze Leben als Endlosschleife besprochen habe. Es setzt bei der Idee an, wie es wäre, wenn man sein Leben mehrfach leben könnte und sich beim Rücksprung an den Anfang an alle vorherigen Erfahrungen erinnern könnte.
Dieses Gedankenspiel ist wiederum aus Titeln wie «Replay» (Jahrzehntlich grüsst das Murmeltier) bekannt. Doch Claire North hatte den Gedanken, dass nicht nur ein einzelner Mensch sein Leben mehrfach lebt, sondern dass dieses Schicksal einer ganzen Bevölkerungsgruppe widerfährt.
Dieser Umstand hat zur Folge, dass die Wiederholer sich quasi zwangsläufig organisieren müssen. Es liegt nämlich auf der Hand, dass einzelne Rückspringer nicht brav versuchen, ihr persönliches Dasein zu optimieren, sondern auf die Idee verfallen, ihren Wissensvorsprung ausnutzen.
Den temporalen Terrorismus verhindern
Dafür ergeben sich zwangsläufig entsprechende Möglichkeiten: Ein Rückspringer könnte Kenntnisse über den technischen Fortschritt, die er sich am Ende seines Lebens angeeignet hat, am Anfang der nächsten Runde zum eigenen Nutzen ausbeuten. Für die Menschheit wäre das verheerend, weil automatisch das Machtgefüge durcheinander käme und dieser temporale Terrorismus unweigerlich in die Dystopie führen müsste. Nicht nur das: Wenn sich mehrere Rückspringer in böser Absicht zusammenschliessen, können sie Wissen über die Zukunft sogar weiter in die Vergangenheit transportieren, als das einem einzelnen möglich wäre.
Bei «Die vielen Leben des Harry August» ist es der Cronos Club, der über die Integrität des Zeitablaufs wacht. Bei «Relive» ist es eine Art Orden, der das tut. Doch von diesen Dingen ahnt der Held am Anfang der Geschichte noch nichts: Gerald Holstrom lebt den grössten Teil seines Lebens, 47 Jahre, im Knast, wo er gelandet ist, weil er nach einem Einbruchsversuch von der Tochter des Hauses überrascht wurde und sie versehentlich erschossen hat. In diesem Gefängnis stirbt er, von Reue geplagt, nachdem er versucht hat, einen Freund von einer Messerstecherei zu bewahren und selbst zum Opfer wurde.
Doch Holstrom ist nicht tot, sondern erwacht mit süssen 19 Jahren auf einer Wiese mit Blick in den blauen Himmel und stellt fest, dass er wieder am Anfang seines Lebens steht. Er hat die Chance, beim zweiten Durchlauf die schlechte Gesellschaft zu meiden, deretwegen er zum Einbrecher geworden ist. Er sieht sogar die Möglichkeit, seinen Gefängnisfreund von seinem Fehltritt abzuhalten und ihn von einem Leben hinter Gittern zu bewahren.
«Relive» macht Spass
Wie es weitergeht, erzähle ich gleich. Aber weil das einige Spoiler beinhalten wird, hier erst mein Fazit – und die Empfehlung, das Buch ohne weitere Lektüre meines Beitrags hier in Angriff zu nehmen, falls die bisherige Schilderung ansprechend gewesen sein sollte.
Also, mir hat «Relive» Spass gemacht. KJ Nelson ist sicherlich nicht der begnadete Stilist unter der Sonne, und dem Buch hätte ein bisschen mehr Lektorat vielleicht auch gutgetan. Aus der Reise zurück in die Jugend hätte sich mehr nostalgische Stimmung herausholen lassen, wie das Stephen King in «11/22/63» (Back to the Future für Erwachsene) vorexerziert. Aber für einen jungen Autor würde das einen grossen Rechercheaufwand bedeuten. Und darum verzeihe ich es KJ Nelson, dass er an dieser Stelle andere Prioritäten gesetzt hat.
Das Hörbuch krankt ausserdem daran, dass der Erzähler Jimmy Hodson versucht, die beiden Ich-Erzähler Gerald Holstrom und Flinn stimmlich zu trennen, und deswegen die Teile von Holstrom mit einer nach unten gedrückten Stimme liest. Diese künstliche Basslage klingt aufgesetzt und nervt mit der Zeit etwas. Aber sie ist kein Grund, das Buch nicht zu konsumieren. Bei selbst verlegten Büchern muss man gewisse Kompromisse machen, und das gilt auch für Hörbücher.
Weniger Verkopftheit, mehr Action
Was mir wirklich gut gefällt, ist, dass KJ Nelson es schafft, ein spannendes Abenteuer aus dieser Konstellation herauszukitzeln. Im Vergleich zu «Die vielen Leben des Harry August» ist «Relive» packender und unterhaltsamer: Das Buch von North/Webb konzentriert sich auf die persönliche Beziehung von Protagonist und Antagonist und ist auch ein bisschen zu verkopft. Dabei funktionieren Zeitreise-Geschichten am besten, wenn sie im Duktus des Popcorn-Kinos erzählt werden – wie wir schon seit Back to the Future wissen.
Und genau das tut KJ Nelson. Es gibt ein bisschen Romantik zwischen Holstrom und Abrey, eine Bromance zur zweiten Ich-Figur Flinn, eine echte Entwicklung in der Beziehung der beiden und eine gelungene Überraschung am Ende. Das Buch ist nämlich als Anfang einer Reihe konzipiert, die «The Journeyer Series» heisst. Und so viel sei gesagt: Nach dem gelungenen Cliffhanger werde ich mir gerne auch den zweiten Teil zu Gemüte führen.
Mit anderen Worten: Wenn ich Verlagschef wäre, würde ich das Gespräch mit KJ Nelson suchen. Und als Freund von fantastischen Stoffen mir unbedingt «Relive» besorgen.
Der Kardinalsfehler der Zeitreisenden
Und nun noch einmal kurz zurück zur Geschichte: Während Holstrom versucht, seinen Freund vor einem Leben im Gefängnis abzuhalten, begegnet er in einem Diner einem Jüngling, der ihn aus unerfindlichen Gründen mit einer Waffe bedroht und entführt. Holstrom hat den Fehler gemacht, in Gedanken einen Johnny-Cash-Song zu summen, der noch längst nicht veröffentlicht worden ist. Damit weiss Flinn, der ebenfalls ein Journeyer ist, natürlich sofort Bescheid. Und weil sich im Moment seltsame Dinge abspielen, ist er sehr auf der Hut.
Doch Holstrom kann Flinn überzeugen, dass er nicht zu einer der Splittergruppen gehört, die sich vom Orden abgelöst haben. Er macht glaubhaft, dass er zum ersten Mal einen «Reset» erfahren hat, indem er bereitwillig erzählt, wie und wo er in sein altes Leben zurückgekehrt ist. Das tun erfahrene Journeyer nicht, weil sie sich einer grossen Gefahr aussetzen: Man könnte sie nämlich noch vor dem Rücksprung eliminieren und aus wäre es mit der Unsterblichkeit.
Flinn seinerseits ist ein Aussenseiter, der seine Geheimnisse für sich behält. Zu denen gehört, dass er nach jedem seiner Resets einige Bösewichte in der Region ausschaltet, zum Beispiel einen Serien-Frauenmörder. Trotzdem freunden sich Flinn und Holstrom an. Sie schaffen es, Holstroms Freund vor dem Gefängnis zu bewahren und gehen dann wieder getrennte Wege.
Romantik – aber erträglich dosiert
Holstrom gedenkt, sein Leben besser zu führen und auch dafür zu sorgen, dass Aubrey nicht zu Schaden kommt: Das ist die Frau, die er in seinem ersten Leben versehentlich erschossen hat. Das gelingt, und nicht nur das: Holstrom und Aubrey kommen sich näher und werden ein Liebespaar.
Doch es bleibt natürlich nicht bei der Harmonie. Denn Dimitri hat den Orden unterwandert und ein Mitglied nach dem anderen ausgeschaltet. Flinn und Holstrom erfahren erst spät, wie verfahren die Situation ist – als Dimitri Aubrey entführt hat und zum grossen Gegenschlag ansetzt. Dimitri hat es geschafft, eine Maschine zu erfinden, die den Journeyern die Erinnerung raubt und dazu führt, dass sie sich nach dem «Reset» nicht mehr an ihr vorheriges Leben erinnern können. Auf diese Weise sind sie nicht mehr in der Lage, sich zu organisieren und ihm Paroli zu bieten.
Holstrom erfährt, dass er selbst einmal ein hochrangiges Mitglied im Orden war, aber von Dimitri ausgeschaltet worden ist. Sein vermeintlich erstes Leben war eines von vielen, und der Überfall auf das Haus Aubreys war eine Falle gewesen, um ihn für ein Leben ruhigzustellen. Die verbleibenden aufrechten Journeyer nehmen den Kampf gegen Dimitri auf und besiegen ihn.
Aber offensichtlich nur für dieses eine Leben. Denn wie Flinn, der beim Kampf sein Leben verliert, nach dem Reset feststellt, ist das passiert, was immer hätte verhindert werden sollen: Ein Break; der normale Lauf der Ereignisse wurde durchbrochen. Die USA sind dabei, der Sowjetunion den Krieg zu erklären. Es braucht nicht viel Fantasie, um zu vermuten, dass Dimitri – seines Zeichens Russe, und anfänglich eine etwas klischeehafte Figur – hinter der Sache steckt.
Beitragsbild: Mit solchen Leuten hatte Gerald Holstrom fast sein ganzes Leben lang zu tun (Damir Spanic, Unsplash-Lizenz).