Das ganze Leben als Endlosschleife

«Die vielen Leben des Harry August» erzählt die Geschichte eines Mannes, der sein Leben nicht einmal, sondern ganze fünfzehn Mal absolvieren muss. Er ist nicht der einzige, sondern organisiert sich im Cronus Club mit seinesgleichen – und sie müssen gegen einen antreten, der die Zeitleiste der ganzen Menschheit durcheinanderbringen will.

The First Fifteen Lives of Harry August (Amazon Affiliate), in Deutsch Die vielen Leben des Harry August (Amazon Affiliate) ist eine Geschichte, die zwar gut in meine Nerdliteratur-Rubrik passt – aber weder mit dem Zeitreisen– noch mit dem Multiversums-Tag so richtig passend beschrieben ist (ich habe trotzdem mal beide zugewiesen). Es gibt zwar Varianten im Ablauf der neueren Menschheitsgeschichte und Informationen, die im Zeitablauf nach hinten wandern. Aber es gibt keine Methode, mit denen die Protagonisten von einem Paralleluniversum ins andere hüpfen könnten. Und auch keine Zeitmaschine.

Die Mechanik zur Durchbrechung des linearen Ablaufs der Dinge erinnert sehr ans Buch «Replay», das ich im Beitrag Jahrzehntlich grüsst das Murmeltier besprochen habe: Da geht es um Jeff Winston, der einen Teil seines Lebens immer und immer wieder erlebt. Er kann daraus Lehren ziehen, Varianten ausprobieren und sehen, was er tun muss, damit es ihm gut ergeht. Aber wie er in diese Schleife hineingeraten ist, das bleibt im Dunkeln. Es passiert einfach – und damit muss man sich als Leser zufriedengeben.

Der Tod ist nicht definitiv und kein Ende ist abzusehen

Auch Harry August erlebt sein Leben mehrfach: Wie der Titel andeutet, fünfzehnmal. Und ich verrate nicht zu viel, wenn ich sage, dass nach dem 15. ein 16. Mal erfolgt, und die Wiederholungen sich potenziell in alle Ewigkeit erstrecken könnten. Jedenfalls ist kein Ende abzusehen und kein Grund zu erkennen, warum Harry August nach jedem Tod in sein altes Leben wiedergeboren wird. Es passiert einfach, weil es eine Art Naturgesetz zu sein scheint.

Der Clou – und der grosse Unterschied zu «Replay» – ist beim Buch von Claire North alias Catherine Webb, dass es Harry August nicht allein so geht. Es gibt andere Menschen wie er, die ihr Leben mehrfach leben. Sie nennen sich, in Abgrenzung zu den «Linears» Kalachakra, manchmal auch Ouroboran. Und sie organisieren sich im Cronus Club. Dieser Club ist einerseits eine Art Selbsthilfegruppe. Andererseits hat er sich die Aufgabe gegeben, Missbräuche zu verhindern. Denn ein skrupelloser Kalachakra kann bei seinen Schleifen durch die gleichen Jahrzehnte Wissen ansammeln und Vorkehrungen treffen, um zu Macht und Einfluss zu kommen und den normalen Ablauf der Menschheitsgeschichte zum Entgleisen zu bringen.

Der Cronus Club wacht über die Zeitleiste

Und jedes Mal auf dem Sterbebett grüsst das Murmeltier…

Das ist denn auch bereits einmal passiert. Der Cronus Club hatte einen der ihren auszuschalten, dessen psychopathische Natur Überhand gewonnen hatte. Und auch wenn die Kalachakra eigentlich unsterblich sind, gibt es doch eine Möglichkeit, sie auszuschalten. Nämlich indem man die Eltern daran hindert, Kinder zu kriegen – was typischerweise bedeutet, dass man sie umbringt: Nur um ganz sicher zu sein.

Entsprechend achten die Kalachakra darauf, nicht zuviel über ihre Herkunft preiszugeben. Denn eben: Wer die Eltern eines anderen Kalachakra kennt, hat die Möglichkeit, den ein für alle Mal auszuschalten.  Harry August hat den Vorteil, Waise zu sein. Das gibt ihm ausreichend Möglichkeiten, sich entsprechend zu schützen – obwohl es für ihn bedeutet, dass er sich ausgiebig foltern lassen muss.

Aber bevor ich zu viel verrate, hier das Resümee: Ich kann das Buch empfehlen. Es hat Spass gemacht und holt aus der «Alles auf Anfang»-Prämisse eine Menge heraus. Allerdings ist es auch ein sperriges Buch, trotz des überzeugenden Stils der Autorin. Das hat damit zu tun, dass bei der Ausgangslage einfach keine lineare Erzählung möglich ist. So, wie Harry August immer wieder zu seiner Geburt 1919 zurückgeworfen wird, nachdem er ungefähr 1989 gestorben ist, erleben wir als Leser gewisse Dinge mehrfach.

Wie man ums Leben kommen kann

Der Anfang der Geschichte ist denn auch mehr eine Ansammlung von Anekdoten aus Harry Augusts Leben: Was er gemacht hat, um für Abwechslung zu sorgen, wie er dieses oder jenes Mal im Krieg gefallen oder sonst ums Leben gekommen ist, welche Studien er absolviert und was für Ehen er geführt hat. Und wie er mit dem Cronos Club in Kontakt geraten ist, nachdem ein Geheimdienstler, der selbst kein Kalachakra war, ihm mit Gewalt Informationen über die Zukunft hatte entlocken wollen.

Gegen Ende der Geschichte wird es besser: Da spitzt sich der Konflikt zwischen Harry August und seinem Widersacher Vincent Rankis zu. Wenn sich zwei gegenüberstehen, die gleichzeitig Freund und Feind sind, dann ergibt sich daraus ein klassischer Plot – wo es darum geht, wer besser pokert und den anderen austrickst, kommt auch ordentlich Spannung auf. Allerdings gibt es keinen actionreichen Showdown. Aber die Auflösung des Konflikts überzeugt und berührt.

Wie gesagt: Der Stil und die Schreibweise gefallen gut. Etwas zwiespältig bleibt die Figur von Harry August: Er hat sich zwar zur Aufgabe gemacht, in jedem seiner Leben nach Möglichkeit einen Frauenmörder auszuschalten. Aber darüber hinaus hat er nicht wirklich einen Plan, was er mit seiner Unsterblichkeit und den unendlich vielen Chancen darauf, das Leben zu verbessern, anfangen könnte. Zum Beispiel tut er das nicht, was viele von uns wahrscheinlich tun würden: Nämlich all die Optionen durchzuprobieren, was die Bandbreite der zwischenmenschlichen Beziehungen angeht.

Die Erinnerung ausschalten – und alles ist wie neu

Aber gut, das ist vielleicht nicht jedermanns Sache. Manche Aspekte des Kalachakra-Daseins hätte man schillernder ausmalen können. Zum Beispiel den Punkt, dass es nicht die reine Freude ist, sein Leben immer und immer wieder leben zu müssen. Im Gegenteil  – ich stelle mir vor, dass diese Aussicht in Momenten der Schwäche verheerend auf die Psyche wirken würde. Es gibt zwar Kalachakra in der Geschichte, die die Konsequenzen ziehen und sich fürs Vergessen entscheiden. Das ist eine Methode, mit der gegen Ende des Todes die Erinnerung ausschaltet. Dann beginnt man zwar wieder von vorn, erinnert sich aber nicht mehr an die vorherigen Leben. Dann ist wieder alles wie neu.

Diese Option steht Harry August jedoch nicht offen. Doch um das zu erklären, muss ich ein paar Spoiler loswerden. Darum der Tipp: Wer das Buch lesen möchte, sollte bei dieser Besprechung hier jetzt nicht weiterlesen.

Also: Harry August hat das perfekte Gedächtnis. Er erinnert sich an alles, was er jemals erlebt hat. Selbst nach der Behandlung, die ihm sein Freund-Feind Vincent Rankis hat zukommen lassen. Vincent hat die Absicht, alles aus seinen Möglichkeiten herauszuholen. Er sammelt während seinen Leben Informationen über den so genannten Quantenspiegel. Was der genau tun würde, bleibt unklar. Vincent beschreibt ihn wie folgt:

Der Quantenspiegel wird die Geheimnisse der Materie, von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft enträtseln. Wir werden endlich verstehen, was wir bisher nur vorgegeben haben zu verstehen – Leben, Tod, Bewusstsein, Zeit…

Harry August hält es für keine gute Idee, diese Maschine zu bauen. Er widerspricht ihm erst, ist aber auch immer wieder Teil seines Teams. Er sabotiert das Unterfangen, was ihm nur deswegen gelingt, weil er sich an alles erinnert, selbst nachdem Vincent ihn der Prozedur des Vergessens unterzogen hat.

Ist das wirklich so leicht zu verkraften?

Das führt dazu, dass er während mehrerer Leben so tun muss, als ob er sein Leben zum ersten Mal leben würde, obwohl er sich daran erinnert, wie Vincent ihn gefoltert und umgebracht hat. Das ist schwer nachzuvollziehen – ich an Harrys Stelle hätte das nicht so leicht weggesteckt.

Das Finale besteht darin, dass Harry August Vincent die Details über seine Herkunft entlockt und so die Möglichkeit erhält, dessen Eltern zu vergiften. Das macht er, indem er ihn dazu bringt, Gewissensbisse zu entwickeln. Nachdem Harry dem Widersacher das Leben rettet, obwohl der ihn bereits in mehreren Leben ziemlich schäbig behandelt hat, ist Vincent reif: Er rückt von selbst mit den Informationen heraus, weil er sich die Schuldgefühle von der Seele reden will…

Beitragsbild: Wie für immer und ewig auf der Achterbahn gefangen (Pixabay/Pexels, Pexel-Lizenz).

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