So ein richtiger Klimax ist das nicht, wenn ich mich im (mutmasslich) letzten Teil meiner schönen Serie zur Jahresmusterung der grossen Tech-Konzerne auf Facebook stürze. Denn Facebook ist seit Jahren ein Sorgenkind. Aus der eigentlich schönen Vision, die Menschen der ganzen Welt zu vernetzen, ist eine Art geistiger Krankheit geworden, die sich pandemisch durchs Internet verbreitet. Ich habe sie seinerzeit Morbus Facebook genannt.
In einem in diesem Jahr erschienenen Buch, hier besprochen, lässt uns Steven Levy nacherleben, wie es dazu kommen konnte – und wie die Taten des Mark Zuckerberg seiner hehren Vision nie so richtig gerecht werden konnten. Dieses Muster hat sich auch 2020 fortgesetzt: Zuckerberg hat zwar keinen Skandal à la Cambridge Analytica gebaut, worüber man eigentlich schon einmal froh und dankbar sein müsste. Aber Facebook hat nicht den Eindruck erweckt, dass man längst diagnostizierten Probleme auch wirklich angehen will. Im Gegenteil – was wir 2020 aus Menlo Park in Kalifornien gehört haben, ist unter dem Strich sehr ernüchternd.
Erinnern wir uns an den Boykott im Juli: Mehrere US-Bürgerrechtsorganisationen haben gefordert, dass die sozialen Medien endlich ernsthafte Massnahmen gegen Hass-Posts veranlassen. Diverse Unternehmen haben nach dem Aufruf ihre Anzeigen bei Facebook gestoppt, unter anderen Adidas, Coca-Cola, Ford, Honda, HP, Lego, Levi Strauss bis hin zu Microsoft, Patreon, Pfizer, Puma, The North Face und Verizon.
Zuckerberg sitzt es aus
Zuckerberg war unbeeindruckt und hat ein paar halbherzige Massnahmen angekündigt. Doch er hat auch keinen Hehl daraus gemacht, dass er der Überzeugung ist, der Boykott werde bald im Sand verlaufen.
Und wie es scheint, hat er damit recht gehabt. Trotz der Aufmerksamkeit der Medien habe der Boykott die Werbeeinahmen nicht tangiert, schreibt emarketer.com. Zuckerberg hatte recht: Viele Unternehmen haben ihren Boykott annähernd stillschweigend beendet. Davon liest man allenfalls in kleinen Branchenmeldungen, wie hier zum Beispiel zu Unilever.
Nun kann man sich auf den Standpunkt stellen, der Boykott hätte durchaus etwas bewirkt. Der Wikipedia-Eintrag zum Thema erwähnt, dass Facebook antisemitische Gruppen und Verbreiter von QAnon-Bullshit löscht. Als Quelle für diese Aussage dient haaretz.com:
Facebook ging erstmals im August gegen QAnon vor. Damals hat das soziale Netzwerk 1500 QAnon-Seiten und -Gruppen entfernt, wo über Gewaltakte diskutiert worden ist. Jetzt will Facebook alle QAnon-Inhalte entfernen, auch wenn sie sich nicht explizit auf Gewalt beziehen.
Klar, es ist Auslegungssache, ob man das als grossen Erfolg oder als kleines, längst überfälliges Schrittchen verbucht. Ich neige zur zweiten Auslegung: Einmal mehr hat sich gezeigt, dass sich Facebook immer nur genauso weit bewegt, wie es unbedingt nötig ist.
Ein Eiertanz, der nicht enden will
Das ist ein andauernder Eiertanz, der auch 2020 weitergegangen ist. Im November habe ich mich im Beitrag Facebook bekämpft die Hassrede – und wiegelt gleichzeitig ab mit dem Transparenzbericht des sozialen Netzwerks beschäftigt.
Mein Fazit damals war, dass ich es zwar schätze, dass sich Facebook mit dem Bericht – der hier zu finden ist – sich wenigstens ein bisschen in die Karten schauen lässt. Besser fände ich es, wenn das soziale Netzwerk eine solche Beurteilung durch unabhängige Wissenschaftler zulassen würde.
Und auch dieser Transparenzbericht zeigt, dass Facebook das Problem lieber kleinredet, statt es ernsthaft anzugehen.
Mit anderen Worten: Facebook sich auch 2020 verhalten, wie es zu erwarten gewesen wäre. Wie man das gewichtet, hängt von den Erwartungen und Ansprüchen ab, die man an Facebook stellt. Da 2020 in den USA ein Wahljahr und obendrein ein Pandemiejahr war, könnte man der Ansicht sein, dass Facebook etwas mehr hätte tun können. Ja, dass hier eine eigentliche Chance vertan worden ist.
Russische Gegner und einheimische Trolle
Die «Financial Times» hat ein langes Stück zur US-Wahl veröffentlicht:
Diesmal hat Facebook nicht nur mit russischen Gegnern zu kämpfen, sondern auch mit einheimischen Trollen und Unruhestiftern. In den letzten Monaten kursierten Dutzende von haltlosen Verschwörungen. Einige davon sind harmlos. (…) Andere scheinen darauf ausgelegt zu sein, Spannungen zu schüren und sogar Gewalt anzustacheln: zum Beispiel, dass die Demokraten einen Putsch planen.
Die Erkenntnis in diesem Beitrag ist, dass Mark Zuckerberg von seiner Haltung abrücken musste, Facebook sei «unpolitisch» und ein Instrument zur freien Meinungsäusserung – und er wolle nicht Schiedsrichter darüber sein, was wahr sei und was nicht:
Diese Haltung hat sich in den letzten Wochen abgeschwächt, als in letzter Minute Dutzende von Richtlinien für Fehlinformationen und Wahlintegrität erstellt wurden – oft als Reaktion auf den Druck der Medien oder um neue Szenarien mit Herrn Trump anzusprechen, der den Wahlprozess wiederholt in Frage stellt.
Vergleicht man Facebook mit Twitter, dann steht Facebook schlecht da: Twitter hatte mit dem Account @realDonaldTrump ein besonderes Problem an der Hand.
Doch der Kurznachrichtendienst hat es offensiver gelöst, auch wenn man auch bei Facebook unter manchen Beiträgen von Trump einen Hinweis auf das Voting Information Center findet.
Facebook trägt viel zur Verhärtung bei
Was nun Corona angeht, ist meine persönliche und zugegeben anekdotische Erfahrung, dass Facebook leider wenig zur Entspannung, aber viel zur Verhärtung der Fronten beiträgt. Ein solches Erlebnis habe ich neulich im Beitrag Noch ein paar solcher Posts, und ich bin raus bei Facebook bebloggt. Das ist noch harmlos, im Vergleich zu dem, was man beim «Tagesspiegel» liest: «Auf Facebook schreiben mir Leute, ich solle verrecken», erzählt Intensivpfleger Ricardo Lange, der von seiner täglichen Arbeit mit Corona-Patienten berichtet.
Und ja, auch wenn sich solche Entgleisungen auf einer riesigen Plattform wie Facebook nicht gänzlich vermeiden lassen, so sehe ich leider keine Anzeichen, dass Facebook sich darum bemühen würde, sie zumindest einzudämmen.
Und darum bleibt, auf die Politik zu hoffen: Denn wenn man Facebook ernsthaft mit der Zerschlagung droht, würde sich Mark Zuckerberg vielleicht ernsthaft um eine Verbesserung bemühen.
Beitragsbild: Auch dieses Jahr wieder (Annie Spratt, Unsplash-Lizenz).