Das falsche Buch zur falschen Zeit

Eine Be­spre­chung von «Der Tag bricht an» von Suzanne Collins mit einem Schlenker zu «Das Lied von Vogel und Schlange»: Wo das letzte Rest­chen Hoff­nung elend ver­hungert.

Alle Jahre wieder …

Obwohl ich neuerdings einen persönlichen Kulturberater habe, beging ich kürzlich den Fehler, mir selbst ein Buch auszusuchen: Sunrise on the Reaping heisst es, bzw. in Deutsch Der Tag bricht an. Es stammt von Suzanne Collins und ist eine weitere Folge aus der Hunger Games-Reihe.

Ich habe die ersten drei Folgen vor 13 Jahren gelesen und sie besprochen. Weil meine Buchbesprechungen damals nicht so episch wie heute waren und ich mich nicht mehr an die Details erinnere, bleibt meine Meinung vage. Ich hatte anscheinend Mühe, mich mit der Hauptfigur zu identifizieren, und die Story war mir zu brutal. Trotzdem war sie spannend genug, dass ich in einem Rutsch durch die drei Bände gerauscht bin.

Nun also der fünfte Band. Es ist unklar, ob es nach den Regeln dieses Blogs zulässig ist, ein Buch zu besprechen, das nach den ersten Kapiteln in die Ecke geknallt wurde. Ich finde ja: Es kommt zwar vor, dass Geschichten mit einem schwachen Anfang am Ende zulegen. Aber es sagt auch etwas über ein Buch aus, wenn es mich nicht bei der Stange zu halten vermag. Ich neige dazu, mich durchzubeissen¹. Doch wie mir dann einfiel, habe ich auch beim vierten Teil (The Ballad of Songbirds and Snakes/Das Lied von Vogel und Schlange) den Bettel hingeworfen.

Menschenskinder, wie oft denn noch?

Doch ob fertig gelesen oder nicht, anhand dieser Bücher lässt sich ein interessanter Aspekt von Serien-Erzählungen diskutieren: Die Serien neigen dazu, einen grossen Erzählbogen über alle Folgen hinweg zu spannen. Die Tribute von Panem scheinen im Gegensatz dazu an Ort und Stelle zu treten. Suzanne Collins, so mein Eindruck, erzählt jedes Mal die gleiche Geschichte. Zugegeben, die Perspektive wechselt und für echte Fans gibt es genügend Abwechslung, um bei der Stange zu bleiben.

Man kann dieses Drehen im Kreis auch als politische Botschaft auslegen: Wir haben es mit einer Dystopie zu tun, in der in den USA die Demokratie dem Faschismus weichen musste. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an den Hunger Games werden in einer modernen Form von Panem et circenses ausgebeutet. In dieser Welt ohne jede Freiheit haben die Mächtigen keinerlei Interesse an Veränderung. Das System ist auf ewige Stagnation ausgelegt. Und diese ausweglose Situation wird in diesen Geschichten intensiv spürbar.

Ich bin bereit, diese Sichtweise zu akzeptieren. Trotzdem lässt sich ein Buch nicht losgelöst von der Aktualität und der gesellschaftlichen Stimmung betrachten. Wenn Donald Trump in den USA den Faschismus in Echtzeit ausrollt, dann ändert Suzanne Collins überhaupt nichts, auch wenn sie ein weiteres Mal beschreibt, wie schrecklich die Folgen sind. Wenn der Kunst diese Macht gegeben wäre, hätte das erste Buch von 2008 oder der erste Film von 2012 die Wahl Trumps verhindert.

Wie brutal Collins mit ihren Figuren umspringt

Klar darf eine Autorin die Geschichte erzählen, die sie will. Zumindest, solange unerwünschte Bücher nur aus einzelnen Bibliotheken und nicht generell verbannt werden. Umgekehrt bin ich als Leser frei bei meiner Reaktion. Und die bestand bei mir in reflexartiger Ablehnung. Als Louella McCoy zu Tode kam, war für mich die Sache klar: Das ist das falsche Buch zur falschen Zeit. Eine so düstere Geschichte braucht einen starken Pol der Hoffnung: Katniss Everdeen erfüllt diesen Anspruch in den ersten Büchern. Haymitch Abernathy, die Hauptfigur der fünften Folge, tut das nicht; auch wenn mitfühlend geschildert wird, nehme ich Suzanne Collins ihre Sympathie für diesen (schon aus dem ersten Teil bekannten) Helden nicht ab.

Eigentlich war mein Hunger auf Panem hier schon gestillt.

Eine positive Erkenntnis bleibt: «Sunrise of the Reaping» ist nicht der schlimmste Teil dieser Pentalogie. Diese Ehre kommt dem vierten Teil zu. Der Held in «The Ballad of Songbirds and Snakes» ist der spätere Diktator Coriolanus Snow. Wir erleben seinen Werdegang mit; und auch wenn er nie wirklich sympathisch wird, so frage ich mich dennoch, warum seine Geschichte gleichwertig zu der von Katniss Everdeen erzählt wird.

Diesen Schlenker schafft Collins nicht

Vielleicht, weil es legitim ist, literarisch in jede Ecke zu leuchten? Natürlich, dennoch zwei Einwände:

Erstens: Den Antagonisten ins Zentrum zu rücken, ist ungleich schwieriger als die Botschaft von Hoffnung, Mut, Überlebenswille und Integrität zu vermitteln: Wer «das Böse» erklärt, läuft Gefahr, ihm den Schrecken zu nehmen oder es zu rechtfertigen. Es ist lobenswert, wenn das Publikum lernen soll, zu differenzieren und den Antagonisten nicht bloss als eindimensionale Figur wahrzunehmen. Doch diese Lektion vermittelt man als Autor oder Autorin vorzugsweise ohne den Perspektivenwechsel hin zum Täter. Auch wenn ich nicht ausschliessen will, dass das gelingen kann, so habe ich bislang kein Buch gelesen, auf das das zutreffen würde: nicht im grässlichen «Ender’s Game» und auch nicht in «The Ballad of Songbirds and Snakes».

Zweitens: Indem Snows Geschichte derjenigen von Katniss nachfolgt, ergibt sich unweigerlich eine Relativierung von deren mutigem Überlebenskampf. Wenn meine Unterstellung unzutreffend ist und es bei dieser Geschichte nicht bloss darum ging, die Franchise weiter melken, dann hätte Collins chronologisch erzählt und Katniss das letzte Wort gehabt.

Fazit: Nach den ersten drei Teilen hätte Schluss sein sollen. Falls Suzanne Collins es nicht lassen kann und eine sechste Folge anhängen will, dann empfehle ich dringend, am Ende weiterzumachen. Wie kehrt nach dem Sturz von Präsident Snow die Demokratie zurück? Sie muss nicht perfekt sein. Panem braucht nicht die ultimative Erlösung – denn dass das nicht Collins’ Ding ist, haben wir alle inzwischen kapiert. Aber sich einen echten Anfang vom Ende auszudenken – das wäre das Richtige für diese Zeit

Fussnoten

1) Inzwischen jedoch weniger als früher. Ich habe dieses Jahr so viele Bücher abgebrochen, wie noch nie, weil ich nicht innert nützlicher Frist in die Geschichte hineingefunden habe. Das sind diese sieben Titel: The plot against America (Philip Roth), If this book exists, you’re in the wrong universe (Jason Pargin und David Wong), Engelskalt (Samuel Bjørk), Nine Princes in Amber (Roger Zelazny), Razor Girl (Carl Hiaasen), The ten thousand doors of January (Micaiah Johnson) und Killing Floor (Lee Child). Vielleicht bedeutet das, dass ich aufs Alter wählerischer werde.

Beitragsbild: Er findets gut. Haymitch Abernathy, gespielt in den ersten drei Teilen durch Woody Harrelson (Screenshot Youtube).

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