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In «Thana­topia» treibt Tom Hillen­brand Science-Fiction-Ideen rund um die künst­liche In­tel­li­genz und die vir­tuel­le Rea­li­tät auf die Spitze – manche Les­erin­nen (wie ich) mögen sich über­for­dert fühlen.

Dieses Buch überforderte mich. Am Ende fühle ich mich enttäuscht – ohne, dass ich mit Sicherheit sagen könnte, dass es die Schuld des Autors ist. Nein, vermutlich liegt es an mir, weil ich den Zugang zu dieser Geschichte nicht fand. Denn wie es so ist in Beziehungen: Man muss es schaffen, sich aufeinander einzulassen. Und da in dem Fall einer literarischen Beziehung der eine Part gedruckt bzw. als Hörbuch aufgezeichnet vorliegt, muss der andere Part fähig sein, sich den Gegebenheiten auszuliefern.

Es geht um Thanatopia von Tom Hillenbrand. Die Handlung findet Ende des 21. Jahrhunderts statt. In dieser Ära erlaubt es der technische Fortschritt, den Verstand, das Cogit vom Körper zu lösen: Das digitalisierte Ich kann in andere «Gefässe» «hochgeladen» werden und eine Existenz führen, die in ihren Möglichkeiten weit über das hinausgeht, was wir analogen Menschen gewohnt sind. Alter, Geschlecht und Aussehen werden von Konstanten zu Variablen. Die Realität ist viel weniger als heute mit den Sinnen erfassbar. Zu diesem Umstand trägt auch die holografische Hochtechnologie bei. Sie ist allgegenwärtig, und sie wird dazu genutzt, die Umwelt zu verschönern, von unliebsamen Dingen zu befreien oder gewissen Bedürfnissen anzupassen.

Die drei Eskalationsstufen der virtuellen Zukunft

Tom Hillenbrand lotet in bislang drei Büchern aus, welche Grenzerfahrungen im Schnittbereich zwischen virtueller und realer Welt möglich sind. Im Auftakt der Reihe, Hologrammatica, tut er das im Stil eines Kriminalromans: Galahad Singh ist Quästor, d.h. Privatdetektiv, und er muss die verschwundene Computerexpertin Juliette Perotte aufspüren.

Der zweite Teil trägt den Titel Qube. In dem geht es um Calvary Doyle, der als investigativer Journalist sich in gefährliche Gefilde begibt, und um die UNO-Agentin Fran Bittner. Doyle bekommt es mit der UN-Organisation UNANPAI zu tun, die sich gegen die Bedrohung durch unkontrollierbare KIs einsetzt. Die Angst vor der künstlichen Intelligenz ist begründet, denn beim sogenannten «zweiten Turing-Vorfall» hat eine künstliche Intelligenz Æther, die eigentlich den Klimawandel aufhalten sollte, jedoch ein Bewusstsein entwickelte und sich verselbständigte.

Ganz so verwickelt wie die Linien auf dem Cover sind die Handlungsstränge zum Glück doch nicht.

Der dritte Teil ist nun «Thanatopia». Hillenbrand erhöht das Abstraktionslevel noch einmal kräftig. Denn wenn sich das menschliche Bewusstsein digitalisieren, übertragen, sichern und wiederherstellen lässt, wird auch der Tod zu einer relativen Grösse. Ausdruck davon sind die «Deather». Das ist eine Art Todeskult, deren Mitglieder mithilfe von Klonen ihrer selbst Suizid in Serie begehen, um herauszufinden, wie nahe sie der sogenannten «thin black line» kommen – und ob es möglich ist, sie zu überwinden. Stasja ist die Hauptfigur dieser Gruppe, und sie sieht Dinge, die noch keiner vor ihr gesehen hat und davon berichten konnte. Wobei auch sie nicht weiss, ob das Halluzinationen sind, während der Körper herunterfährt, oder ob sie vor einem Übergang steht, der ins Ungewisse führt.

Wo ist dieses verflixte Glossar?

Diese Frage ist indes nur einer der Handlungsstränge. In einem zweiten gerät die Nobelpreisträgerin Sahana Chandra Kapoor in einen seltsamen Unfall, und der Ermittler Carpentras begegnet Galahad Singh und stellt die Verbindung zu den zwei vorherigen Büchern her.

Damit sind wir bei meiner Kritik: Ohne gute Erinnerung an die ersten beiden Teile ist es schwierig, den Einstieg zu finden. Ich habe beide gelesen, hatte viele Details jedoch nicht mehr präsent. Ich hatte immerhin das Glück, auf meine Rezension von «Hologrammatica» Rückgriff nehmen zu können. Den zweiten Teil habe ich hier im Blog kurz erwähnt, aber leider nicht besprochen, was sich als Handicap erwies und mich dazu bringt, eine alte Forderung zu erneuern: Verlage sollten sich nicht zu fein sein, den Fortsetzungsbüchern eine «Was bisher geschah»-Zusammenfassung voranzustellen. Und ein unverzeihliches Versäumnis ist, dass das hier erwähnte Glossar im Hörbuch fehlt.

Bei «Thanatopia» hätten mich solche Verständnishilfen nicht gerettet. Mein Hauptproblem ist, dass es keine echte Identifikationsfigur gibt. Da sich das Buch auf keinen Protagonisten konzentriert, verzettelt es sich. Als sich die Handlung in den Kuipergürtel erstreckte und Von-Neumann-Sonden ins Spiel kamen, hatte der Autor für meinen Geschmack den Bogen überspannt. Ich verstand intellektuell seinen Drang, die Geschichte auf die Spitze zu treiben und die Konsequenzen seiner literarischen Erfindungen zu Ende zu denken, aber es fehlt der Kitt, der diesen Ausbund an Fantasie zusammenhält – der Humor wäre ein Anfang, hat aber in diesem Fall leider nicht ausgereicht.

Beitragsbild: Man stelle sich vor, das wäre der Chip eines Quantencomputers – dann liesse sich hier eigene Hirn zwischenspeichern (🇻🇪 Jose G. Ortega Castro 🇲🇽, Unsplash-Lizenz).

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