Der Tatort steckt im Cyberspace

«Drohnenland» von Tom Hillenbrand ist ein Kriminal­roman, in dem die Kommissare dank Tota­lüber­wachung ein leichtes Spiel haben. Was wie eine Dysto­pie klingt, liest sich span­nend und macht (mir) Lust auf eine Zukunft mit smarten Luft­fahr­zeugen und einer vir­tuel­len Parallel-Welt.

Tom Hillenbrand entwickelt sich langsam aber sicher zu einem meiner deutschsprachigen Lieblingsautoren. «Hologrammatica» fand ich toll (Identität ist dort, wo man sich gerade hochgeladen hat), den Nachfolger Qube gut, aber dem ersten Teil nicht ganz ebenbürtig. Doch das ist häufig so – ich rechne in dieser Serie mit einem grossartigen Teil drei. Aber kein Druck, Tom. 😉

Obama hätte seine wahre Freude.

Neulich habe ich mit grossem Vergnügen ein Buch von Hillenbrand gelesen, das nicht im gleichen Erzählraum spielt, aber denselben futuristischen Hauch verströmt. Es heisst Drohnenland, stammt von 2014, ist damit älter als «Hologrammatica» (2018): Es spielt in einer zukünftigen Europäischen Union, in der die Briten noch nicht ausgetreten sind, aber gerade dabei sind, diesen Plan in die Tat umzusetzen. Die Klimaerwärmung hat ihre Spuren hinterlassen, indem sie die Niederlande unter Wasser gesetzt und Portugal zu grossem Reichtum verholfen hat. Wie genau, wissen wir nicht. Aber es ist naheliegend, dass der Aufstieg etwas mit erneuerbaren Energien zu tun hat.

Die Menschheit hat die Chancen genutzt, die sich durch den technischen Fortschritt ergeben haben. Virtuelle Brillen, die sogenannten Specs, haben das Smartphone abgelöst. Drohnen sind zum Alltagsgegenstand geworden:  Es gibt sie überall, und sie sammeln so viele Daten, dass sich die Polizeiarbeit beträchtlich verändert hat. Kommissar Aart van der Westerhuizen hält sich nur noch selten an echten Tatorten auf, sondern ermittelt vorwiegend in Datenwelten. Man kann sich nämlich in diese computergenerierten Umgebungen hineinversetzen lassen und sich dort bewegen, als wäre man vor Ort. Mit anderen Worten: Hier existiert ein richtiges Metaversum, nicht der Kinderkram von Mark Zuckerberg.

«Harry, fahr schon mal die Drohne vor»

Darum werden Kommissare nicht von Assistenten unterstützt, wie das zu Derrick-Zeiten noch der Fall war, sondern von Datenexperten. Im Fall von Europol-Mann van der Westerhuizen ist das Forensikerin Ava Bittmann, die brillant und nicht ganz so abgehalftert ist wie ihr Vorgesetzter. Er ist ein Veteran der Solarkriege, über die man als Leser auch nicht allzu viel erfährt, aber über die man sich das nötige zusammenreimen kann. Es ist vermutlich nicht verkehrt, den Reichtum Portugals mit ihnen in Verbindung zu bringen.

Van der Westerhuizen jedenfalls steht auf Humphrey Bogart und scheint auch dessen Werte und Attitüden verinnerlicht zu haben – allerdings mit dem Unterschied, dass er nicht qualmt wie sein Idol, sondern salzige Lakritzstangen kaut.  Denn wie nicht anders zu erwarten, können sich in dieser Zukunft nur die reichen Landbesitzer das Rauchen noch erlauben, weil es in öffentlichen Räumen überall verboten ist.

Van der Westerhuizen und Ava Bittmann bekommen es mit einem vermeintlich einfachen Fall zu tun. Der Brüsseler Parlamentarier Pazzi liegt erschossen auf einem Feld, stellt aber erst einmal keine grosse ermittlerische Herausforderung dar. Dank des technischen Fortschritts ist die Aufklärungsquote traumhaft und die Ermittlungszeit im Schnitt kurz. Dank der annähernd totalen Überwachung gibt es für Täter kaum eine Möglichkeit, der Gerechtigkeit zu entkommen.

Kommissare sind Daten-Mineure

Das liegt nicht nur, aber auch an den besagten Drohnen, mit denen sich Tatorte mit allen Details digitalisieren lassen. Dieser Vorgang, der bis auf die Molekularebene der Umgebung vordringt, nennt sich Spiegeln. Und so bleibt kaum ein Detail verborgen, zumal auch eine künstliche Intelligenz namens Tereisias zum Ermittlerteam gehört. Die sammelt Daten, führt Analysen durch und kann mittels Bots gigantische Datenmengen durchforsten.

«Drohnenland» ist ein spannender und unterhaltsamer Sciencefiction-Krimi, in dem Tom Hillenbrand beweist, wie virtuos er eine technische und soziale Zukunftsfantasie mit einer interessanten Story verbindet. Denn wie man schon erahnen kann, ist der Mord an Parlamentarier Pazzi nicht so banal, wie es scheint. Im Gegenteil: Es steht eine gross angelegte Verschwörung dahinter, die sich den Umstand zunutze macht, dass die Polizei nurmehr selten vor Ort, sondern meistens virtuell ermittelt. Denn bekanntlich gibt es keine Daten, die sich nicht manipulieren lassen.

Den Test der Zeit bestanden

Zwei Dinge sind bemerkenswert: Erstens der Vergleich mit Marc Elsbergs Buch «Zero», das ebenfalls 2014 erscheinen ist (Es geht noch schlimmer als Facebook und Google). «Drohnenland» ist im Vergleich dazu deutlich besser gealtert. Ich führe das auf den Umstand zurück, dass Tom Hillenbrand seine Geschichte weiter in der Zukunft ansiedelt und darum nicht in der gleichen Weise überprüfbar ist, wie das bei «Zero» der Fall ist – da wissen wir sechs Jahre später, dass es anders gekommen ist.

Der wichtigere Grund, weswegen «Zero» mehr Spass macht, ist die persönliche Haltung des Autors. Bei Elsberg ist unverkennbar, dass er die sozialen Medien mit all ihren Auswüchsen nicht mag. Hillenbrand bzw. seine Hauptfigur van der Westerhuizen scheint sich in seiner Zukunft hingegen ganz wohlzufühlen. Klar, die Totalüberwachung ist keine erfreuliche Sache – aber deren Probleme treten im Verlauf der Geschichte unmissverständlich ans Licht und gegen Ende ergibt sich auch eine einleuchtende und sinnvolle Lösung dafür. Also kein Grund, die Moralkeule zu schwingen.

Tech-Fans schreiben die bessere Scifi

Der zweite bemerkenswerte Aspekt ist, dass man während der Lektüre nachvollziehen kann, wie «Drohnenland» den Autor zu «Hologrammatica» geführt hat. Jene Geschichte, in der sich Hirne digitalisieren und in Klone transferieren lassen, ist nicht die direkte, aber die logische Folge der virtuellen Welten, in denen man die Realität spiegeln kann. Auch die beiden Protagonisten, van der Westerhuizen und Singh, sind Brüder im Geist und neigen dazu, während ihrer Arbeit Philip Marlowe zu channeln. Es zeigt sich auch, dass es für Science-Fiction-Autoren eine Gratwanderung bleibt, wie weit weg sie eine Geschichte von der Lebenswelt der Leserinnen ansiedeln wollen – je weiter in der Zukunft, desto futuristischer. Doch je näher an der Gegenwart, desto besser nachzuvollziehen

Jedenfalls glaube ich, dass die Tech-Fans – maximal verallgemeinert – die bessere Sciencefiction schreiben als die Fortschrittskritiker. Das bedeutet nicht, dass man jegliche Neuerungen vorbehaltlos gutheissen müsste. Im Gegenteil, man kann sogar als Tech-Fan eine Tech-Dystopie schreiben. Aber ein genereller Spass an der Zukunft ist eine hervorragende Voraussetzung für ein solches Abenteuer.

Beitragsbild: Die Cyberbrillen sind zum Alltagsgegenstand geworden (Ernest Tarasov, Unsplash-Lizenz).

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