Identität ist dort, wo man sich gerade hochgeladen hat

Ein gelungenes Stück Sciencefiction mit einem hartgekochten Detektiven und Technik, die wir jetzt schon gerne hätten: «Hologrammatica» von Tom Hillenbrand.

Sosehr ich auch versuche, meine Bücher mithilfe von künstlichen Intelligenzen und klugen Algorithmen zu finden – siehe Eine neue Liebe finden – sosehr komme ich immer wieder zur Erkenntnis, dass nichts über die Tipps von Freunden gehen. So auch bei dem Werk, das ich euch heute näherbringe. Das ist eine Empfehlung meines Mitnerdfunkers Kevin Rechsteiner, der es in unserer Sendung Endlich Spass am Stubenhocken kurz vorgestellt hat.

In diese Zukunft würde ich mich sofort hochladen lassen.

Es heisst Hologrammatica (Amazon Affiliate) und stammt von Tom Hillenbrand. Weder das Buch noch der Autor war mir vorher geläufig. Schlecht zu fühlen brauche ich mich deswegen nicht, weil der Hillenbrand gemäss Wikipedia erst seit knapp neun Jahren fiktionale Werke schreibt. Der Erstling von 2011 war ein «kulinarischer Krimi», was nicht gerade meinem literarischen Beuteschema entspricht. Mit Siencefiction ging es 2014 los – und sechs Jahre Verzögerung bei der Entdeckung eines neuen Sterns am Firmament sind für einen Hobby-Kritiker vertretbar. Finde ich.

Die Klimakatastrophe im fortgeschrittenen Zustand

Also, zum Buch: Ich bin noch nicht ganz durch, doch ich mache mich trotzdem schon an die Rezension. Erstens, weil ich so nicht Gefahr laufe, unabsichtliche Spoiler von mir zu geben. Und zweitens, weil mir der Stil und die Geschichte so gut gefällt, dass ich jetzt schon weiss, dass selbst ein völlig missratenes Ende mir den Spass nicht (komplett) verderben würde.

«Hologrammatica» handelt von einer Welt, die Ende dieses Jahrhunderts spielt. Die Klimakatastrophe ist so weit fortgeschritten, dass das Leben in Mitteleuropa keinen Spass mehr macht. Wer es sich leisten kann, zieht in kühlere Gefilde – und die, die ausharren, können sich immerhin über einen brutalen Preiszerfall bei den Mieten freuen.

Doch auch die technische Entwicklung ist nicht stehen geblieben. Die Holografie hat Einzug gehalten. Sie bringt es mit sich, dass die schäbigen und vernachlässigten Quartiere aussehen, als wären sie gerade mit viel Geld hipsterkonform renoviert worden. Auch Hinz und Kunz kann sich mit dieser Technik in ein gutes Licht rücken. Statt sich zu waschen und in Schale zu stürzen, macht man sich holografisch zurecht. Dass die Menschheit auf Oberfläche und Blendwerk abfährt, hat sich jedenfalls auch in der Zukunft nicht geändert.

Es gibt aber nicht nur die Holografie. Wer es sich leisten kann, mutiert zum Quant und steigt vom analogen Denkapparat aufs E-Cephalon um: Das ist ein Quantenrechner, der anstelle des Hirns im Kopf eingesetzt wird. In dem läuft das so genannte Cogit, der digitalisierte Inhalt des eigenen Ichs. Dieser Quantencomputer heisst auch Qube: Er ist so gross wie eine Walnuss, weswegen deren Besitzer auch «Hohlköpfe» genannt werden: Weil der Qube viel kleiner ist als das Gehirn, muss der restliche Platz mit Füllmaterial ausgestopft werden, damit es beim Laufen nicht klackert.

Den Kopfinhalt digitalisieren? (Ja!)

Die Möglichkeit, den Kopfinhalt zu digitalisieren, eröffnet ungeahnte Möglichkeiten. Man muss das Cogit nicht in seinem eigenen Kopf belassen. Man kann es in andere Körper hochladen, zum Beispiel in Klone, die eigens dafür entwickelt wurden. Daraus ergeben sich ganz praktische Vorteile: Gefährliche Missionen erledigt man nicht mit seinem eigenen Körper, sondern mit einem Klon, dem so genannten Gefäss. Wenn der Tod droht, führt man rechtzeitig ein Backup durch, damit kein Datenverlust entsteht.

Und ganz nebenbei ergeben sich ganz neue, spannende Tummelfelder für Leute, die nicht einsehen wollen, warum sie sich mit dieser einen, naturgegebenen Identität begnügen sollen. Wie in einen opulenten Karneval lädt man sich in jenes Gefäss hoch, dessen Eigenheiten und Wirkung auf die Mitmenschen man schon immer einmal erleben wollte.

So geht es auch Galahad Singh, der Hauptfigur und Ich-Erzähler der Geschichte. Er lernt an einer Party, die er berufeshalber und mit wenig Begeisterung besucht, Francesca kennen. Da Singh auf Männer steht, reizt sie ihn weniger als er sie. Doch als sie ihm während der orgiastischen Afterparty anbietet, in ein ihm genehmes Gefäss zu schlüpfen, kann er nicht widerstehen. Er hat eine heftige Affäre mit Francesco, die sich nach der Party in echte Zuneigung verwandelt. Und das, obwohl Singh völlig im Unklaren verbleibt, mit wem er es zu tun hat – denn ob Francesca sich selbst war oder bereits in einem Gefäss steckte, ist genauso unklar wie alles andere an dieser Person.

Die Deather und ihr Spiel mit dem Tod

Singh ist ein Quästor. So wird man Ende dieses Jahrhunderts die Privatdetektive nennen. Er hat den Auftrag erhalten, eine verschwundene Computerexpertin aufzuspüren. Juliette Perrotte hat die Verschlüsselung entwickelt, mit der die Cogits vor Manipulationen und Ausspähung geschützt werden – und sie ist selbst ein Quant, und ein ziemlich spezieller obendrein. Sie gehört nämlich zu den Deathern. Das sind Leute, die einen Kick daraus ziehen, mit ihrem Leben zu spielen. Was dank der Backup-Möglichkeit ohne echte Lebensgefahr abgeht.

Dank eines Tricks des Autors ist der Originalkörper der Quants nicht völlig überflüssig – denn das wäre einerseits aus dramaturgischer Sicht schwierig, weil Unsterblichkeit jede Geschichte langweilig macht. Andererseits wäre es für Singh aussichtslos, eine Person suchen zu wollen, die sich jederzeit in jedem beliebigen Gefäss auf dem Planeten verstecken könnte. Deswegen ist das Cogit in fremden Gefässen nur beschränkt überlebensfähig. Die Quants müssen spätestens nach 21 Tagen in ihren Ursprungskörper zurückkehren, ansonsten ein irreparabler Datenverlust auftritt.

Lang kanns nicht mehr dauern, bis es diese Technik gibt

Das ist eine Ausgangslage ganz nach meinem Geschmack: Technik, die heute zwar nicht existiert, aber zumindest vorstellbar ist. Denn das die Virtual Reality bloss ein Zwischenschritt zur holografisch aufgemotzten Realität sein kann, leuchtet jedem ein, der schon mal eine solche Brille auf der Nase hatte. Und die Singularität à la Ray Kurzweil wurde, falls ich mich nicht irre, ungefähr für 2045 vorausgesagt. (War ursprünglich nicht sogar mal von 2025 die Rede? Das dürfte jedoch knapp werden.)

Ausserdem veranstaltet Tom Hillenbrand auch eine Art Karneval der literarischen Genres. Das Buch ist Sciencefiction, doch der Held gehört in die Kategorie der hartgesottenen Detektive. Man hört bei Singh den inneren Monolog von Philip Marlowe durch, auch wenn die Klientin bei Hillenbrand nicht durch die Bürotür gestöckelt kommt, sondern per Holoschalte ihre Aufwartung macht.

Naheliegende Spekulationen

Die Versatzstücke sind nun nicht Tom Hillenbrands ureigendste Erfindung. Den in die Zukunft versetzten Film-Noir-Charakter gibt es auch in «The Big Sheep» von Robert Kroese, das ich vor zwei Jahren besprochen habe. Das ist allerdings noch etwas klamaukiger. Und auch wenn der Plot völlig in Ordnung ist, wird Hillenbrand der Sache besser gerecht.

Die Auswirkungen, mit denen wir es zu tun bekämen, wenn sich der Geist vom Körper trennen liesse, hat John Scalzi  in «Lock in» beschrieben. Auch das eine gute Geschichte, aber nicht ganz so prägnant wie «Hologrammatica», wo die Zukunftsvision alles in allem noch stimmiger ist. Denn wie so oft: Die US-amerikanischen Autoren arbeiten plakativer, die aus dem deutschsprachigen Raum aber umso gründlicher.

Fazit: Wenn nach Vollendung der Lektüre noch etwas nachzutragen wäre, dann würde ich das an dieser Stelle tun. Ansonsten seien sowohl das Buch als auch der Autor hier nachdrücklich empfohlen. Ich werde mir sicher auch die anderen Bücher von Tom Hillenbrand näher ansehen, auch die Fortsetzung von «Hologrammatica» namens Qube. Vielleicht aber auch den kulinarischen Krimi namens Teufelsfrucht.

Fussnoten

1) Jetzt bin ich fertig mit dem Buch – und darf berichten, dass mir auch das Ende gut gefallen hat. Der Plot hält, auch wenn nicht alle Fäden aufgedröselt werden. Aber dazu ist dann der zweite Teil zuständig – oder, wie viele Folgen noch kommen mögen. Von mir aus dürfen es gerne noch ein paar mehr sein.

Beitragsbild: Andrea Piacquadio, Pexels-Lizenz

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