Seit einiger Zeit bin ich Mitglied der Facebook-Gruppe Flache Erde Schweiz. Nicht, weil ich überzeugt bin, dass unsere Erde eine Scheibe ist. Denn wie käme man als aufgeklärter Mensch des 21. Jahrhunderts dazu, die wissenschaftlich eindeutig belegten Fakten zu bezweifeln?
Nein, es ist meine Neugierde: Ich finde es spannend zu sehen, wie Leute operieren, die versuchen, eine völlig unhaltbare Idee zu verteidigen. Ausserdem glaube ich, dass ich auf diese Weise etwas über die Denkweise von Menschen erfahren kann, die sich mit Händen und Füssen gegen Einsichten sträuben, die ihrer persönlichen Wahrnehmung zuwiderlaufen.
Denn zugegeben: Ich erlebe die Welt auch nicht als Kugel, sondern als flach. Wenn ich meine Sichtweise als absolut nehmen würde, dann hätte ich keine Wahl, als die Flacherdler in ihrem Kampf zu unterstützen. Aber mir ist irgendwann in meinem Leben aufgegangen, dass ich die Welt nicht so erlebe, wie sie tatsächlich ist. Was ich in meinem Kopf habe, ist eine kleines, verzerrtes Abbild der Realität, das ich selbst für mich herstelle. Und es gibt immer wieder Gelegenheiten festzustellen, dass meine mentale Konstruktion unzureichend ist und korrigiert werden muss.
Für Abenteurer und Fantasten
Drittens ist die Theorie der flachen Erde unterhaltsam. Sie regt meine Fantasie an, indem sie mich dazu bringt, das Was-wäre-wenn-Spiel zu spielen: Ich male mir aus, die Theorie würde zutreffen: Was wäre dann ausserhalb dieser Scheibe? Und welche Abenteuer könnten wir erleben, wenn wir uns aufmachen würden, den Rand und das, was jenseits von ihm kommt, zu erforschen? Das ist ein geistiger Aufbruch in die Terra incognita – die in unserer Zeit, wo jede erdenkliche Information in ein paar Sekunden ergoogelt werden kann, ein letztes Abenteuer. (Und ein Grund, weswegen ich auf Multiversums-Geschichten stehe.)
In aller Regel ist die Facebook-Gruppe zur flachen Erde auch wirklich unterhaltsam. Wir bekommen Tiktok-Videos zu sehen, wonach die Flache Erde die Existenz Gottes beweist. Es gibt Fotos, auf denen angeblich der sogenannte Antarktisring zu sehen ist. Und nebenbei erfahren wir auch, dass auch die Gravitation ein Hirngespinst ist – weil ein Apfel, der auf dem Meer schwimmt, ihr angeblich problemlos entfliehen kann.
Also, alles ganz unschuldig.
Die üblichen Erklärungsmuster – und alte Verdächtige
Zumindest eine Zeitlang. Denn auch die Theorie der flachen Erde kommt auf Dauer nicht ohne die Hinterleute aus, die uns Schlafschafen die Wahrheit vorenthalten. Natürlich ist es nicht so, dass die Wissenschaftler aus Dummheit und Ignoranz von der Kugelgestalt der Erde ausgehen. Nein, sie tun es mit Absicht und bösem Willen. Beispielsweise, weil die Wissenschaft grundsätzlich als Instrument angesehen wird, mit denen die Mächtigen die Massen knechten. Oder weil ausserhalb des bekannten Erdkreises Gebiete vorhanden sein könnten, die die Eliten für sich selbst nutzen wollen – ohne, dass der Pöbel ihnen in die Quere kommt.
Und ja, eher früher als später zeigt sich leider auch, dass sich die Verschwörungstheorien nie vollständig isolieren lassen. Es gibt ein geflügeltes Wort für diesen Sachverhalt: Leute, die bereit sind, einen Unsinn zu glauben, sind auch empfänglich für jeden beliebigen anderen Unsinn. Davon bleibt auch die schöne Facebook-Gruppe der flachen Erde nicht verschont. Einer postete ein Meme zur chinesischen Raumstation, zusammen mit dem Kommentar «Space-Hoax in der Rothschildrepublik China 🇨🇳».
Denn der Name Rothschild kann in diesem Kontext nur antisemitisch verstanden werden. Denn wie hier der SWR erklärt:
Die «Rothschilds» als geschlossenen Familienverbund gibt es so auch gar nicht mehr. Der Mythos Rothschild ist Bestandteil vieler antisemitischer Verschwörungstheorien.
«Maximal verstrahlt»
Natürlich auch hier. «Die Juden» stecken nach dieser Deutung hinter dem Weltraumprogramm der Chinesen, das im Rahmen einer flachen Erde sowieso ein Betrug ist – also sind sie auch die Drahtzieher hinter der Lüge der Kugelerde. Der Urheber dieses Posts macht seinen Gedankengang bei einem anderen Beitrag noch deutlicher: Ohne Globus auch keine Globalisten (ein weiteres antisemitisches Codewort).
Das ist so absurd, dass einem fast der Kopf platzt. Ich habe daraufhin folgenden Kommentar abgesetzt:
Man muss schon maximal verstrahlt sein, um von einer «Rothschildrepublik China» zu schwadronieren. Laut Wikipedia gibt es um die 2500 Juden in China – auf 1,4 Milliarden Menschen. Sorry, aber wer von einer roten Fahne auf Rothschild kommt, der ist entweder ein übler Hetzer oder hat nicht mehr alle Murmeln im Körbchen.
Wie immer in solchen Fällen bekommen wir als Antwort auf einen solchen Einwand eine Flut von Links und Behauptungen, die einzeln zu widerlegen fast unmöglich ist. In dem Fall legte der Urheber des Posts u.a. mit der Behauptung nach, das rote Buch von Mao sei von Israel Epstein geschrieben worden. Er war, so verrät Wikipedia, «einer der wenigen im Ausland geborenen chinesischen Staatsbürger nicht-chinesischer Herkunft, die Mitglied der Kommunistischen Partei Chinas wurden». Daraus die Idee abzuleiten, der ganze chinesische Parteiapparat sei bis heute «jüdisch unterwandert», ist – und es tut mir an dieser Stelle leid, das so unverblümt sagen zu müssen – noch dümmer als stur an der flachen Erde festzuhalten.
Darum kommen wir an dieser Stelle zu einem traurigen Fazit: Verschwörungsmythen sind kein unschuldiges Vergnügen. Auch nicht einmal eine auf den ersten Blick so harmlose Theorie wie die der flachen Erde.
Beitragsbild: Das ist der Beweis – wäre die Erde eine Kugel, bliebe das schöne Schiffchen niemals haften (Monstera, Pexels-Lizenz).
Was ich in meinem Kopf habe, ist eine kleines, verzerrtes Abbild der Realität, das ich selbst für mich herstelle. Und es gibt immer wieder Gelegenheiten festzustellen, dass meine mentale Konstruktion unzureichend ist und korrigiert werden muss.
…wie recht du hast:)