Ich darf von einer charmanten Geschichte berichten, die ich gerne allen Freundinnen und Freunden von gepflegten Zeitreise-Abenteuern empfehle. Das Buch heisst And then she vanished und stammt vom britischen Autor Nick Jones. Es ist der Auftakt einer vierteiligen Serie, von der der erste Teil auch auf Deutsch erschienen ist und Die Unerwartete Gabe des Joseph Bridgeman: Ein Zeitreise-Abenteuer heisst¹.
Wenn wir den englischen und den deutschen Titel zusammen anschauen, ergibt das eine Kurzzusammenfassung des Inhalts: Joseph Bridgeman hat eine ungewöhnliche Gabe. Bei manchen Alltagsgegenständen, die er in die Finger nimmt, spürt er etwas über deren Vergangenheit – er betreibt quasi Provenienzforschung mit den Händen, was ihm bei seiner Arbeit als Händler antiker Gegenstände sehr zupass kommt. Doch er nimmt auf diese Weise die Vergangenheit nicht nur wahr, sondern schafft es plötzlich, sich selbst in die Vergangenheit zu versetzen. Diese Fähigkeit setzt er ein, um sich auf die Suche nach seiner Schwester Amy zu machen. Sie ist nämlich im Jahr 1992 aus seiner Obhut verschwunden, als sie zusammen einen Jahrmarkt besucht haben.
Zurückgehen und alles heil machen
Dieser Verlust hat die Familie nicht verkraftet. Josephs Vater hat sich das Leben genommen und seine Mutter hat vorzeitig, wohl aus Kummer, Demenz entwickelt. Als Joseph seine neue Gabe entdeckt, gibt es nur noch ein Ziel in seinem Leben: Ins Jahr 1992 zu reisen, und Amys Verschwinden ungeschehen zu machen oder zumindest aufzuklären. Dabei unterstützt ihn seine Hypnosetherapeuthin Alexia Finch, die ihm hilft, sich innerlich so zu erden, dass er es schafft, von 2020 bis zum Schicksalsjahr 1992 zurückzureisen – was ihm nicht in einem Sprung, sondern nur mit zweien gelingt.
Und klar – das ist das zentrale bzw. fast unvermeidliche Thema bei Zeitreise-Geschichten: Es gilt, ein unglückliches Ereignis zu verhindern und eine Ungerechtigkeit aus der Welt zu schaffen, damit das Leben der beteiligten Figuren – oder der ganzen Menschheit – wieder ins Lot kommt.
Diese Prämisse ist nicht originell. Aber das konventionelle Plotkonstrukt gibt es auch in Liebesromanen oder Kriminalgeschichten. Bei denen gehört es zum guten Ton, dass die Geschichte genauso ausgeht, wie wir das erwarten. Der entscheidende Punkt ist das Lesevergnügen, das uns auf dem Weg zur letzten Seite beschert wird – oder eben auch nicht.
Was ist bloss aus Amy geworden?
Nick Jones macht das ganz ordentlich. Er hat einen nonchalanten, humorvollen Schreibstil, der auch Nachdenklichkeit, Gefühle und einige philosophische Einlagen zulässt. Er lässt sich originelle Hürden einfallen, die er Joseph Bridgeman bei seiner Zeitreise in den Weg stellt. Ich habe zwar den Eindruck, dass der Autor sich Gesetze der Zeitreisen gelegentlich etwas zurechtbiegt, wenn es für die Handlung sinnvoll ist². Aber das ist verzeihlich. Denn es braucht gewisse Limitationen, weil ein übermächtiger Held langweilig wäre – und die Geschichten sind spannend genug, dass es kleine Inkonsistenzen verträgt.
Also, kurz zur Handlung: Der Autor zwingt Joseph, sein Unterfangen zweimal in Angriff zu nehmen, woraufhin er sich selbst auf dem Jahrmarkt begegnet. Er hält eine überzeugende Erklärung für das zuvor so unverständliche Verschwinden von Amy bereit.
Und die Geschichte ist stimmig erzählt und gibt uns Leserinnen genügend Anlass, uns um das Schicksal von Amy zu kümmern und uns – und ich hoffe, dass ich an dieser Stelle nicht zu viel verrate – über ihre Rettung zu freuen.
Also, eine Leseempfehlung: «And then she vanished» ist eine solide Sciencefiction-Geschichte, die den Gesetzen der Zeitreise ausreichend Rechnung trägt, aber ohne ins Abstrakte oder allzu Verzwickte abzugleiten. Die Figuren, insbesondere Joseph und Alexia, sind sympathisch, und die Spannung trägt durch die Geschichte.
Der Duft der Vergangenheit dürfte noch etwas intensiver sein
Ich gebe nicht ganz die volle Punktzahl, weil ein kleiner Schwachpunkt die Szenen in der Vergangenheit sind: Denn Leute, die Zeitreise-Geschichten mögen, würde allesamt gern selbst in andere Epochen reisen – und darum sollten die Beschreibungen so lebensecht und authentisch sein, dass wir beim Lesen den Eindruck haben, selbst vor Ort zu sein. Das ist hier nur bedingt der Fall. Das liegt auch daran, dass der Schauplatz eines Jahrmarkts in der britischen Provinz keine allzu grossen zeitlichen Anknüpfungspunkte gibt. Wie toll das ist, exerziert Jack Finney in «Time and again» vor (Die grösste Hürde einer Zeitreise ist die Zeit).
Zur Hörbuchfassung ist zu erwähnen, dass die von Ray Porter gelesen wird, der zum Beispiel auch das grossartige «Project Hail Mary» (Eine Begegnung der ganz anderen Art) von Andy Weir liest. Für diese Geschichte passt er als US-Amerikaner nicht perfekt, da die Geschichte im Vereinigten Königreich spielt. Viele der Figuren gibt er (einen passablen) englischen Akzent, aber die Hauptfigur spricht er ohne, was nicht so richtig Sinn ergibt. Aber seine saloppe, coole Vortragsart passt perfekt.
London während der Beatles-Ära
Wie angedeutet, ist «And then she vanished» der Auftakt einer Serie. Ich habe mir auch den zweiten Teil zu Gemüte geführt. In The Shadows of London bekommt es Joseph Bridgeman mit den Auswirkungen seiner Rettungsaktion zu tun. Und da ich die nur erklären kann, wenn ich einige Spoiler unterbringe, hier der Hinweis, dass mir auch die Fortsetzung so gut gefallen hat, dass ich auch den dritten Teil mit dem Titel The Observer Effect in Angriff nehmen werde. Und ja, je grösser das Happy-End im ersten Teil, umso schwieriger ist es, in einer Fortsetzung überzeugend an die Geschehnisse anzuknüpfen. Aber das ist Nick Jones vor allem am Anfang des zweiten Teils so gut gelungen, dass ich es ihm zutraue, die Serie aus echter erzählerischer Lust weiterzuführen – und nicht bloss, weil es der Verlag für eine gute Idee gehalten hat.
Also, der Auftakt des zweiten Teils beginnt damit, dass Joseph die Auswirkungen seiner Rettungsaktion zu spüren bekommt: Da er seine Schwester Amy erfolgreich retten konnte, ist sein altes Leben kaum mehr wiederzuerkennen: Er ist nicht mehr der Einsiedler, der er vorher war. Seine beiden Eltern und auch Amy halten ihn auf Trab. Und ohne den Schmerz des Verlusts seiner Schwester hat er – beziehungsweise sein anderes Ich, das auf diesem Zeitstrang bisher gewirkt hat und im Buch «the other Joe» genannt wird – ein erfolgreiches Business mit Antiquitäten hochgezogen. The other Joe hat auch einige Affären am Laufen; und vor allem hat er die Mitstreiterin aus dem ersten Teil verprellt. Alexia ist gar nicht gut auf ihn zu sprechen, weil er sich nebenbei auch als Immobilienhai betätigt und sie aus ihrer Praxis werfen will. Und klar – Alexia erinnert sich nicht mehr daran, wie sie Joseph bei der Rettung von Amy geholfen hat, weil das in diesem Zeitstrang nie passiert ist.
Wie der Autor – der übrigens eine gewisse Ähnlichkeiten mit dem Held seiner Geschichte hat, indem beide Musik ab Vinyl hören und gerne Gin trinken, die Geschichte weitertreibt – wirkt dann etwas abgeschmackt: Ein mysteriöser Fremder (W.P. Brown) taucht auf, der Joseph dazu bewegen will, weitere Missionen in der Vergangenheit zu erledigen. Er tut das ohne Begründung, wieso das nötig sein sollte; und Joseph ist nicht begeistert. Er will nach seiner erfolgreichen Mission in der Gegenwart bleiben – was für mich schwer verständlich ist. Ich an seiner Stelle würde … aber das lest ihr dann, wenn mein Zeitreisebuch spruchreif ist.
Mit dem Pyjama in die Sechziger
Was Joseph angeht, ist ihm der zeitreisende Ruhestand nicht vergönnt: Durch eine Intrige wird er, bloss mit einem Pyjama bekleidet, in das London von 1976 geschickt, wo er den Mord an einer Frau miterlebt und von der Polizei verhaftet wird. Nachdem er sich aus dieser Bredouille befreit hat, erfährt er, dass es seine Aufgabe ist, diese Frau zu retten.
Und ja, solche mysteriöse Unbekannte hat mich am Anfang nicht überzeugt. Aber es sei verraten, dass auch der zweite Teil ein tolles Finale mit mehreren soliden, überraschenden Wendungen bereithält. Das gilt auch für den mysteriösen W.P. Brown, der in eine überzeugende Rolle rutscht. Was noch für den zweiten Teil spricht, ist Vinnie (Vincent, Inhaber von «Vinnie’s Vinyls»), der coole Sidekick und das London in den 1960er-Jahre als einer der Handlungsorte, das eine stimmungsvollere Szenerie abgibt, als der eingangs kritisierte Jahrmarkt im englischen Hinterland.
Fussnoten
1) Offenbar gibt es zwei Varianten des Buchs. Bei der englischen, von mir hier besprochenen Variante gibt es folgenden Vermerk:
Diese aktualisierte Version, die zuvor unter dem Titel «The Unexpected Gift of Joseph Bridgeman» veröffentlicht wurde, enthält zusätzliche Kapitel, neue Handlungsstränge und eine noch tiefere Charakterentwicklung. Sie macht den Weg frei für eine erweiterte Vision der Joseph-Bridgeman-Reihe, deren erste vier Bücher in den Jahren 2021 und 2022 erscheinen werden.
Der Titel der deutschen Variante weist darauf hin, dass die anhand der ersten Fassung übersetzt worden ist. Wie gross die Unterschiede sind, vermag ich nicht zu beurteilen. Darum gilt diese Besprechung hier leider nur unter Vorbehalt für die deutsche Ausgabe. ↩
2) Eine solche Inkonsistenz ist mir am Ende des zweiten Teils aufgefallen: Dort kommt Joseph am Ende seines zweiten Abenteuers aus dem alten London zu Vinnie zurück, um mit ihm seine Erlebnisse zu diskutieren – und wie sein Eingreifen die Geschichte verändert hat. Vinnie erinnert sich noch genau, wie es vorher war. Von allem, was wir aus dem ersten Band wissen, wäre das nicht der Fall: Vinnie würde sich nur noch an den geänderten Verlauf der Ereignisse erinnern und hätte keine Ahnung davon, dass es einmal anders war – die Szene, wo sich die beiden Freunde über die Ereignisse unterhalten, wäre, nach allem, was wir wissen, in der Form nicht möglich. ↩
Beitragsbild: Was Zeitreisen und Schallplatten gemeinsam haben (Pexels, Pixabay-Lizenz).