Andy Weir hat mit «The Martian» ein Buch abgeliefert, das mich 2014 in atemloser Spannung gehalten hat: Mark Watney bleibt während einer abrupt abgebrochenen Marsmission alleine auf dem roten Planeten zurück und kämpft mit wissenschaftlicher List um sein Überleben und seine Rückkehr. Sein nächstes Buch spielte auf dem Mond, hatte eine Frau (Jasmine «Jazz» Bashara) als Heldin und erreichte nicht mehr ganz die Flughöhe des Vorgängers – war aber nichtsdestotrotz ein erfreuliches Stück Sciencefiction-Literatur.
Und jetzt Project Hail Mary, zu Deutsch Der Astronaut. Das ist nun ein fulminantes Sciencefiction-Abenteuer, das alles hat, was man sich wünscht. Ich gehe so weit, es noch höher zu hängen als «The Martian» – und ich würde mein Taschengeld von den nächsten fünf Jahren darauf verwetten, dass die Welt nicht lange auf eine Verfilmung wird warten müssen¹.
Also, ohne Spoiler und ohne Umschweife mein Fazit, das auf eine vorbehaltlose Lese- bzw. Hörempfehlung hinausläuft. Die Geschichte hat gewisse Ähnlichkeiten mit «The Martian», sodass ich am Anfang gewisse Befürchtungen hatte, der Autor hätte sich dazu hinreissen lassen, das Erfolgsrezept seines ersten Buchs zu kopieren.
Doch diese Befürchtung zerstreut sich bereits nach ein paar Kapiteln: Andy Weir lässt «Hail Mary» die gleichen Stärken angedeihen, die schon die Robinsonade auf dem Mars ausgezeichnet haben: nämlich eine einfallsreiche Hauptfigur. Ryland Grace befindet sich in einer Lage, die mit «misslich» nur unzureichend beschrieben ist. Und wie Mark Watney bekommt er seine Probleme mithilfe der Wissenschaft in den Griff, weswegen das Buch auch ein Plädoyer gegen Aberglaube, Esoterik und Dummgeschwätz ist.
Ein Lehrer, wie man ihn sich für seine Kinder wünscht
Ausserdem spielt das Buch wie die beiden Vorgänger nicht bzw. nur teilweise auf der Erde, und zum grossen Teil im Weltall, dieses Mal sogar sehr weit von der Erde weg. Was mir am besten gefällt, ist der Ton, in dem die Hauptfigur, Ryland Grace, in der Ich-Form ihr Abenteuer erzählt: mit Humor, Selbstironie und Liebenswürdigkeit. Bevor er zum Weltraumheld wird, ist Ryland Grace ein Grundschullehrer – und zwar einer, wie man ihn sich für seine Kinder wünschen würde.
Also: Unbedingt hier die Lektüre einstellen und dieses Buch besorgen. Am besten in der englischen Hörbuchfassung, die von Ray Porter kongenial gelesen wird.
Um hier meiner Pflicht als Nerdliteraturkritiker Genüge zu tun, hier eine Zusammenfassung, die allerdings Spoiler enthält. Darum nur weiterlesen, wer das Buch schon gelesen hat und nicht lesen möchte!
Ryland Grace erwacht in einer äusserst ungemütlichen Situation. Er erinnert sich nicht mehr an seinen Namen und hat keinen Schimmer, wo er sich befindet. Er gibt keine Menschen, sondern nur einen Krankenpfleger in Form eines Roboterarms mit dem geistigen Niveau einer Siri, die zwei-, dreimal auf ihren künstlichen Kopf gefallen ist.
Die Sonne hat einen Parasiten
Ryland versucht, sich in dieser Umgebung zu orientieren, und mit der Zeit kehrt auch die Erinnerung zurück – was wir Leserinnen und Leser miterleben, indem die Vorgeschichte in die Haupthandlung eingewebt ist. Und so erfahren wir, dass die Erde in Gefahr ist. Die Sonne wird kälter, weil sie von einem Parasiten befallen ist:
Irgendetwas setzt ihr zu und konsumiert so viel solare Energie, dass die Klimaerwärmung vom Tisch ist. Stattdessen droht eine Abkühlung und eine neue Eiszeit. Und die Gefahr ist so gross, dass die Menschheit als verzweifeltes Mittel zur Rettung die Klimaerwärmung anheizt, indem sie mittels riesiger Explosionen Unmengen an grönländisches Methan freisetzt.
Nach einer gewagten Mission wissen die Wissenschaftler: Es ist eine Art Parasit, die wie Lachse für die Vermehrung lange Wanderungen zurücklegt. Diese Lebensform, Astrophage genannt, kann riesige Energiemengen absorbieren, indem sie streng nach Einsteins Formel E = mc² Materie in Energie umwandeln kann und umgekehrt. So lädt sie sich in der Sonne mit Energie auf, wandert dann zur Venus, wo sie sich vermehrt, woraufhin die neuen Astrophage-Zellen wieder zur Sonne zurückkehren, um den Vorgang zu wiederholen – davon zeugen die Energiesignaturen dieses Parasiten, die als sogenannte Petrova-Spur (Petrova line) zwischen Sonne und Venus messbar ist.
Die Menschheit will sich retten
Doch ohne Kampf will die Menschheit sich nicht die Lebensenergie wegfressen lassen. Sie spannt zusammen und unter der Führung der mysteriösen Frau Stratt versammelt sie chinesische, russische, norwegische, chinesische, kanadische, deutsche und amerikanische Kräfte zur Gegenwehr.
Mittels einer gewagten Weltraummission soll ein Gegenmittel gegen Astrophage gefunden werden. Beobachtungen haben nämlich ergeben, dass im All auch andere Sonnen befallen sind. Lediglich ein einziger Stern im Tau-Ceti-System scheint nicht betroffen zu sein. Er wird mit einem Raumschiff angepeilt, wo drei Forscher herausfinden wollen, was ihn vor diesem Parasiten schützt.
Die Ironie ist nun, dass Astrophage nicht nur das irdische Leben bedroht, sondern gleichzeitig auch interstellare Missionen möglich macht. Die Lebensform ist ein gigantischer Energiespeicher, der mittels einer Methode, an deren Entwicklung Ryland Grace massgeblich beteiligt ist, dazu gebracht werden kann, diese Energie kontrolliert und zielgerichtet freizugeben.
Ein Selbstmordkommando
Also werden die von der Venus auf die Erde zurückgebrachten Astrophage-Proben vermehrt, mit Energie angereichert und in einen neuartigen Raketenantrieb eingefüllt, mit dem die Mission aufbricht. Die drei Astronauten begeben sich auf eine Selbstmordmission – denn die Energie reicht nur für die Hinreise, nicht aber für die Rückkehr. Die Resultate sollen mittels vier Gondeln (John, Paul, George und Ringo) zurückgeschickt werden.
Um die 13-jährige Reisezeit zu überbrücken, werden die Astronauten in ein künstliches Koma versetzt. Bei dieser Prozedur geht etwas schief, sodass Ryland der einzige der drei Entsandten ist, der am Zielort aufwacht. Dumm: Er hätte ursprünglich gar nicht an der Mission teilnehmen sollen. Und noch dümmer: Wie erwähnt, erinnert er sich erst noch nicht einmal an seine Aufgabe.
Rocky, der Eridianer
Doch während die Erinnerung zurückkehrt, macht Ryland eine unerwartete Begegnung: Er trifft auf ein zweites Raumschiff einer Spezies, die anscheinend die gleiche Idee hatte wie die Menschheit: Sie will das Geheimnis lüften, wie in diesem einen Sonnensystem die Astrophage-Gefahr gebannt wurde. Es findet ein Kontakt statt.
Und nicht nur das: Obwohl die fremde Spezies vom Planeten Eridian mehr an eine Spinne denn eine humanoide Lebensform erinnert, kommen sich die beiden Entsandten näher. Rocky, wie Ryland seinen Mitstreiter nennt, der alleine mit seinem Schiff «Blip A» unterwegs ist, erweist sich als begnadeter Ingenieur. Und um so bildet sich ein Team, das Synergien nutzt und sich auf überraschende Weise ergänzt – und selbst über die kulturellen Grenzen hinweg wunderbar harmoniert.
Interstellare Synergien nutzen
Rylands Schiff benötigt zwar einige Anpassungen, weil Rocky einen um das 29-fache erhöhten Druck, eine Ammoniak-Atmosphäre und höllenhafte Umgebungstemperaturen benötigt. Doch zusammen schaffen sie es zum fraglichen Planeten, der den Namen Adrian erhalten hat, und finden heraus, dass es dort eine Lebensform gibt, die sich von Astrophage ernährt und die Plage eindämmen kann.
Doch dieser Astrophage-Jäger, nun Taumoeba genannt, aus der Atmosphäre des Planeten zu gewinnen, entpuppt sich als mörderisches Unterfangen, das Ryland und Rocky fast das Leben kostet. Sie kommen knapp davon, nur um festzustellen, dass einige Taumoeba-Zellen in dne Antrieb geraten sein müssen und dort das ganze Astrophage aufgefressen haben. Das hat zur Folge, dass die Hail Mary-Mission ohne Antrieb und nur mit der Notenergie aus ein paar Ersatzbatterien im Orbit von Adrian hängt.
Weiter bin ich noch nicht mit meiner Lektüre, sodass ich das Vergnügen noch vor mir habe zu erfahren, wie sich Ryland und Rocky aus dieser Bredouille herausmanöverieren. Aber keine Frage – ihnen wird etwas einfallen. Es gibt in der Nähe auch noch Rockys Schiff. Und das ist so üppig mit Astrophage ausgestattet, dass Ryland die Aussicht hat, es entgegen jeder Hoffnung zurück in sein eigenes Sonnensystem zu schaffen.
Aber ich freue mich aufs Ende. Und ich bin mir sicher, dass auch das die Erwartungen nicht enttäuschen wird.
Und darum habe ich dieses Lesevergnügen auch jetzt schon mit euch geteilt, obwohl man als Rezensent ein Buch nicht vor der letzten Seite loben sollte². So viele nette Details, die diesen First Contact so spannend machen. Die überzeugende Darlegung, wonach andere Spezies andere Qualitäten und Limitationen haben, wie die Eridianer, die perfekte Datenspeicher im Kopf und Mathequalitäten haben, dass sie den Computer nie erfinden mussten, aber gleichzeitig nicht auf die Relativitätstheorie gestossen sind und nichts von Weltraumstrahlung wissen – das ist natürlich alles auch ein bisschen märchenhaft, aber auch eine so schöne Utopie, wie Sciencefiction nur sein kann!
Fussnoten
1) Hier lese ich in einem Interview mit Andy Weir, dass das sogar schon passiert ist. Ryan Gosling soll Ryland spielen, was nicht zu dem Bild in meinen Kopf passt. Darum gilt wie immer: Unbedingt erst das Buch lesen, bevor Hollywood die eigene Fantasie versaut! ↩
2) Nun bin ich durch mit der Geschichte und freue mich, dass das abschliessende Urteil meinen hervorragenden Eindruck voll betätigt: «Mission Hail Mary» ist das Beste, was ich seit langem gelesen habe. Es gibt gegen Ende noch zwei überraschende und hochdramatische Wendungen: Wir erfahren, dass Ryland nicht freiwillig an der Mission teilgenommen hat und sein Gedächtnisverlust kein Zufall war.
Und wir lernen, dass sich die Evolution kein Schnippchen schlagen lässt: Die Taumoeba-Kulturen, die Ryland zwecks Verwendung in der Venus-Atmosphäre und auf Planet drei von Rockys Heimatsystem stickstoffresistent gezüchtet hat, haben es geschafft, aus ihren Behältnissen auszubrechen, obwohl die doch aus dem eridianischrn Wundermittel Xenonite hergestellt wurden. Das bringt Rocky in höchste Gefahr, weil sein ganzes Schiff aus diesem Material besteht. Und obwohl Ryland sich schon verabschiedet hat und der Erde zustrebt, kehrt er um, seinem ausserirdischen Freund zu Hilfe zu eilen – und das, obwohl er weiss, dass er die Erde mir dieser Rettungsmission nie wieder sehen wird. Er hat dann nämlich nicht mehr genügend Lebensmittel dabei, und wie bereits festgestellt, ist das eridianische Essen für ihn nicht nur ungeniessbar, sondern tödlich.
Aber Ryland entscheidet sich für den Freund und Rettung dessen Zivilisation, zumal die Erde von John, Paul und George gerettet werden wird – also den Gondeln, die das stickstoffresistente Taumoeba ins Sonnensystem zurückbringt.
Dieser Heldenmut wird mit einem bittersüssen, perfekten und Happyend gekürt, bei dem Ryland die Erde nicht mehr sieht, aber auch nicht verhungern muss – und ganz am Schluss sogar seiner Leidenschaft wieder frönen kann und zwölf wissensdurstige Eridianer unterrichtet. Das ist rührend und passt wunderbar zur Einsamkeit, die wir alle während der letzten Social-Distancing-Monaten gespürt haben. ↩
Beitragsbild: Während wir uns mit einem Virus herumärgern, hat sich die Sonne einen Parasiten eingehandelt (Vivek Doshi, Unsplash-Lizenz).