Windows 11 habe keine wirklich bemerkenswerten Neuerungen zu bieten, habe ich bemängelt. Microsoft passe die Optik an, aber ohne in funktioneller Hinsicht einen Schritt in die Zukunft zu machen.
Nun komme ich nicht umhin, dieser Aussage eine Fussnote hinzuzufügen. Es gibt nämlich eine App, in der Microsoft so viele und so radikale Neuerungen eingeführt hat, wie man sie in Windows 11 ansonsten vergeblich sucht. Es handelt sich um den Windows Editor, auch bekannt als notepad.exe.
Die wichtigste Neuerung ist, dass es sich nicht mehr um eine klassische WinAPI-Anwendung handelt, sondern um eine auf der mit Windows 8 eingeführten Schnittstelle basierende, die damals Metro hiess, später aber in Universal Windows Platform (UWP) umbenannt wurde: Das zeigt sich an der Optik, an der grösseren, auch per Touch-Steuerung benutzbaren Menüleiste und daran, dass die Menüs beim Klicken auf den Menükopf nicht sofort erscheinen, sondern mit einer Animation nach unten gleiten.
Jetzt auch weiss auf Schwarz
Und es zeigt sich auch daran, dass der Editor, wie die anderen UWP-Anwendungen, den dunklen Modus unterstützen und sich an der systemweiten Voreinstellung orientieren. (Es gibt auch WinAPI-Anwendungen, die das tun, aber denen muss das extra beigebracht werden.)
Eine weitere Auffälligkeit besteht darin, dass Microsoft den Menüpunkt Format entfernt hat – was seit zwanzig Jahren überfällig war, da man im Editor seit jeher nur unformatierte Texte bearbeiten konnte und ein Format-Menü daher noch nie den geringsten Sinn ergeben hat.
Auch verschwunden ist der Punkt Hilfe bzw. ?: Auch diese Neuerung ist folgerichtig, weil die Benutzerhilfe, die früher bei jeder Anwendung eine Selbstverständlichkeit war, in den letzten Jahren sosehr vernachlässigt worden ist, dass man sie bei den UWP-Apps besser gleich ganz weglässt. Und ja, vermutlich ist es der bessere Ansatz, Anwendungen so zu bauen, dass sie weitgehend selbsterklärend sind und keine Anleitung benötigen – oder dass man zumindest dafür sorgt, dass verzweifelt googelnde Anwender im Web auf ein passendes Youtube-Video stossen.
Man sieht: Beim Editor sieht man – wie bei Windows 11 generell – zuerst einmal das, was fehlt. Doch immerhin sind beim Editor zwei nützliche Funktionen dazugekommen: Es gibt endlich mehr als eine Undo-Stufe. Bisher konnte man nur den allerletzten Arbeitsschritt rückgängig machen. Wenn man den Befehl zweimal betätigt hat, dann hat man das Rückgängigmachen wieder rückgängig gemacht und war wieder gleich weit wie am Anfang. Das ist seit mindestens 25 Jahren nicht mehr zeitgemäss – und darum sind gebührt Microsoft ein winzig kleines Lob dafür, endlich zum aktuellen Stand aufgeschlosen zu haben.
Die Schrift kleiner und grösser scrollen
Ausserdem darf man die Schriftgrösse verändern, nämlich über Ansicht > Zoom, mittels Ctrl
+
bzw. Ctrl
-
oder aber, am einfachsten, durch Drehen am Scrollrad der Maus bei gedrückter Ctrl
-Taste.
Weiter bemerkenswert sind:
- Ein neuer, moderner Suchen-Ersetzen-Dialog, der offen bleiben kann, während man im Text arbeitet.
- Die umfangreichen Unicode-Befehle im Kontextmenü, das beim Rechtsklick im Text erscheint.
- Ausserdem soll der Editor auch mit sehr grossen Dateien zurechtkommen, was früher eine bekannte Schwachstelle war.
Im Beitrag Eine Ode an den Editor habe ich dieses Programm dafür gelobt, dass es sich über Jahrzehnte treu geblieben ist:
Ansonsten hat der Editor (oder Notepad, wie er im Original heisst) sämtlichen Erneuerungsversuchen getrotzt. Die Multimedia-Ambitionen von Windows XP sind ebenso an ihm vorbeigezogen wie der «Ribbon» – die Multifunktionsleiste, mit der Microsoft die klassischen Menüs ersetzte. Und auch unter Windows 10 ist der Editor so minimalistisch, wie ein Windows-Fenster nur sein kann. Damit ist er fast schon wieder modern. Denn nach den aufwendigen Grafikeffekten früherer Versionen ist bei Windows 8 und 10 ein schnörkelloser, reduzierter Look angesagt.
Muss ich diese Ode nun für ungültig erklären oder zumindest in Teilen widerrufen, wo der Zahn der Zeit auch an ihm genagt hat? Oder sind die Änderungen, meiner ironischen Einleitung zum Trotz, so marginal, dass man das Programm als Beispiel nehmen kann, wie ein Produkt sich durch minimale Anpassungen an die aktuellen Gepflogenheiten treu bleiben kann?
Ich neige zur zweiten Position. Meines Erachtens ist das Zahnrad-Symbol, das nun am rechten Rand der Menüleiste vorzufinden ist, an der oberen Grenze der Frivolität angesiedelt: Es schmälert den Wiedererkennungswert beträchtlich, für einen viel zu geringen Preis: Die Einstellungen weisen nämlich nur die zwei Punkte App-Design (hier wählt das helle oder das dunkle Design bzw. den Systemstandard aus) und Schriftart auf, die keinen derartigen Eingriff rechtfertigen.
Es gibt auch ein Leben ohne Notepad
Und Dave Grochocki, der bei Microsoft den «Principal Program Manager Lead» innehat, zeigt in diesem Blogpost hier etwas gar viel Begeisterung ob der neuen Version, sodass man glauben könnte, es habe sich etwas Wesentliches verändert. Doch wenn man sich davon nicht blenden lässt und ein nüchternes Fazit zieht, dann zeigt sich, dass an den richtigen Stellen Hand angelegt wurde, aber ohne den minimalistischen Ansatz zu verraten. Und das ist in der Tat wahrer Fortschritt.
Und falls ihr diese Ansicht nicht teilt: Hier stelle ich Sublime Text vor, hier Visual Studio Code, hier Atom und hier Notepad++: Es gibt ein Leben ohne Notepad!
Beitragsbild: Bei Windows 11 hat sich Microsoft mehrheitlich geradeaus bewegt, doch dank des Editors ging es auch ein paar Stufen nach oben (Lindsay Henwood, Unsplash-Lizenz).