So fortschrittlich, dass man es bald gar nicht mehr braucht

Microsofts Strategie mit Windows 11 ist nachvollziehbar – und trotzdem ein grosser Fehler. Wenn Microsoft nicht aufpasst, ist Windows bald der beste Grund für den Kauf eines iPads.

Für die Tamedia-Websites habe ich mir Windows 11 in der aktuellen Betaversion näher angeschaut. Die Erkenntnis lautet, dass Microsoft die nächste Version verjüngen will: Der Kachel-Look, der mit Windows 8 eingeführt wurde, ist inzwischen neun Jahre alt. Das ist keine Ewigkeit, aber lange genug, dass er nicht mehr taufrisch wirkt.

Und in dieser Zeit hat sich viel verändert: Smartphones und Tablets sind zur dominierenden Geräteform geworden. Mit dem Auslaufen von Windows 7 im Frühjahr 2020 ist das PC-Zeitalter an sein Ende gelangt. Wohlverstanden: Der Personal Computer existiert weiterhin und hat auch nach wie vor seine Berechtigung. Aber er gibt nicht mehr den Takt an. Die mobilen Geräte, Smartphone und Tablets, diktieren die Entwicklung. Das sieht man auch exemplarisch bei Apple, wo Mac OS nur noch die Neuerungen von iOS, iPad OS und der iCloud nachexerziert.

Und eben: Auch Windows 11 beugt sich nun dieser unvermeidlichen Entwicklung. Das Ziel der neuen Version ist offensichtlich, auf die jüngeren Nutzer vertraut zu wirken, die virtuos mit Smartphone und Tablet umgehen, aber gegenüber einer Desktop-Oberfläche Mühe bekunden oder Berührungsängste haben. Im erwähnten Beitrag gibt es eine Bildstrecke, die die Annäherung dokumentiert.

Schaut man bei Windows 11 genauer hin, entdeckt man frappante Ähnlichkeiten zur Konkurrenz: Das neue Startmenü mit Suchfeld, Apps-Raster und Dokumenten bzw. Aktionen hat die gleiche Aufteilung wie die Suche im iPhone-Homescreen.

Ist das nun gut oder schlecht? Meine Antwort wäre ein Sowohl-als-Auch.

Es ist sinnvoll, wenn die Hürden für die Anwender möglichst klein sind, zwischen den Systemen zu wechseln. Das macht es einfacher, für jede Aufgabe das passende Gerät zu verwenden.

Die Gefahr ist gross, die Unterschiede zu stark zu nivellieren

Es ist aber schade, wenn die Unterschiede derartig nivelliert werden, dass die Systeme ihre spezifischen Stärken nicht mehr ausspielen können. Diese Gefahr droht durchaus: Bei Mac OS 12 Monterey zeichnet sich eine Ablösung der tollen Automator-App durch Kurzbefehle ab. Das macht den Mac für iPhone- und iPad-Nutzer vertrauter, weil sie die Kurzbefehle-App von dort kennen. Doch funktional kann Kurzbefehle Automator nicht einmal im Ansatz das Wasser reichen.

Auch mit Windows 11 verschwinden Funktionen. Gemäss diesem Beitrag hier verschwinden sind es die folgenden:

  • Die Live-Tiles, was ich, wie bereits dargelegt, für einen Fehler halte.
  • Die im Mai 2018 eingeführte Zeitleiste, die ich damals als echten Fortschritt bezeichnet habe.
  • Der Tablet-Modus
  • Taskleisten-Funktionen wie der Personen-Hub und die Möglichkeit, Dateien per Maus auf Icons zu ziehen
  • Der Internet Explorer (endlich!)
  • Die Integration von Cortana direkt ins Betriebssystem
  • Das Snipping Tool (siehe Pseudo-Fortschritt bei Windows)
  • Einige vorinstallierte Apps wie der 3D Viewer, OneNote, Paint 3D und Skype
  • Die Möglichkeit, Personalisierungen via Cloud zu synchronisieren

Wie dumm ist das denn?

Die meisten dieser Eliminationen leuchten mir zu einem gewissen Grad ein. Doch einige ergeben keinen Sinn: Wie erwähnt, hätte ich die Kacheln beibehalten. Die Zeitleiste, die vor weniger als drei Jahren eingeführt wurde, schon wieder zu entfernen, wirkt kopf- und strategielos.

Der Windows 11-Store – vorerst noch ohne Android-Apps.

Wirklich dumm ist es, Drag&Drop-Möglichkeiten zu beseitigen. Genau solche Dinge sind es, die Desktop-Betriebssysteme, die per Maus und Tastatur bedient werden, von der mobilen Konkurrenz abheben. Wenn schon, sollten diese Möglichkeiten ausgebaut und konsistent über alle Apps und Oberflächen hinweg angeboten werden. Denn genau wie die Möglichkeit zur Automatisation sind es diese für Profis spannenden Möglichkeiten, die die Daseinsberechtigung auch in Zukunft sicherstellen.

Die Strategie wäre gut, aber Microsoft macht zu viele Fehler

Fazit: Ich kann Microsofts Strategie grundsätzlich nachvollziehen.

Bei den Details macht der Konzern aber viele Fehler. Komplett unverzeihlich finde ich, dass Windows 11 für Berge von Elektroschrott sorgen wird. Wie hier im Detail erklärt, werden heute noch PCs verkauft, die nicht zu Windows 11 kompatibel sind. Da Windows 10 nur noch vier Jahre mit Updates versorgt werden wird, bedeutet das eine Nutzungsdauer von maximal vier Jahren. (Man könnte die Rechner theoretisch mit Linux weiterbetreiben, aber das kommt für die wenigsten Anwender infrage.)

Wie im Beitrag Microsoft hat die Technologieführerschaft verloren ausgeführt, fehlt mir der Wille, dass Windows für die Nutzer auch weiterhin unverzichtbar bleibt. Das schafft man nicht mit Annäherung, sondern nur mit Differenzierung. Falls Microsoft diesen Pfad weiterverfolgt, werden schon bald viele Nutzer die Frage, ob sie mit einem iPad nicht gut genug bedient sind, mit Ja beantworten können.

Beitragsbild: Je mehr sich Windows um Annäherung bemüht, desto verwechselbarer wird das System (fancycrave1, Pixabay-Lizenz).

One thought on “So fortschrittlich, dass man es bald gar nicht mehr braucht

  1. Am Berg des sonst schon grossen Elektroschrotts trägt Microsoft wahrlich dazu bei. Viele Rechner müssen in den nächsten Jahren ersetzt werden, nur weil die Hardwareanforderungen nicht mehr ausreichen.
    Schade um die Ressourcen, die so verschleudert werden.
    Es gibt sicher Millionen von Rechnern, die älter als 4 Jahre sind und noch unter Windows 10 problemlos laufen.
    Zudem hat Microsoft einen sehr guten „Zeitpunkt“ für die Erneuerung gewählt im Zeitalter des weltweiten Halbleitermangels. Man hätte problemlos noch ein- bis zwei Jahre zuwarten können, um die Hardwareanforderungen zu steigern.
    Vielleicht wird es noch einen massiven Wiederstand gegen Microsofts Politik geben, für Windows 10 im Oktober 2025 schon den Stecker zu ziehen. Es ist zu hoffen, auch unserer Umwelt zuliebe.

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