Heute eine App aus der Kategorie «Gut gemeint, aber vielleicht doch nicht der Weisheit letzter Schluss». Wahrscheinlich würde es sich lohnen, hier im Blog eigens dafür eine Kategorie einzurichten – allerdings müsste mir dann noch eine prägnantere und kürzere Bezeichnung dafür einfallen. Jedenfalls geht es darum, dass die Zahl der unausgereiften Apps, denen ich beim Streifzug nach besprechungswürdigen Titeln begegne, ist im Steigen begriffen ist.
Das ist natürlich kein Wunder. Inzwischen gilt There’s An App For That™ absolut wortwörtlich: Es gibt für fast alles, was ansatzweise technisch möglich ist, eine App. Das schränkt die Möglichkeiten für neue Entwickler ein: Man kann etwas Vorhandenes kopieren und hoffen, dass es niemand merkt. Man kann versuchen, eine bestehende App neu zu denken und zu revolutionieren – was meines Erachtens der beste Weg ist, für Furore zu sorgen. Es sind nämlich genau die Apps, die mich begeistern: Diejenigen, die etwas Banales auf überraschende Art und Weise neu lösen. Ein gutes Beispiel dafür ist Anchor Pointer.
Die exotischen Pfade
Dritte Möglichkeit: Man begibt sich als Entwickler auf exotische Pfade. Man widmet sich einem Konzept, das nun nicht gerade danach schreit, als App realisiert zu werden. Und man hofft, dass man auf eine Marktlücke stösst. Die Wahrscheinlichkeit dazu dürfte nicht sehr hoch sein – aber man kann nie wissen.
Ein Beispiel dafür scheint mir die App Name Skillz zu sein. Es gibt sie für 5 Franken fürs iPhone und iPad und kostenlos (?) für Android. Die Idee ist simpel und einleuchtend: Training fürs Namensgedächtnis.
Das sind recht gute Voraussetzungen für einen Überraschungshit. Das schlechte Namensgedächtnis ist menschlich und weit verbreitet. Es ist lästig und unter Umständen eine Ursache für äusserst peinliche Momente. Wenn einem nun eine App begegnet, die verspricht, etwas gegen diese menschliche Schwäche zu tun, werden viele das gleiche tun wie ich und sich sagen: Einen Versuch ist es wert.
Nicht ganz ausgereift
Nun habe ich angedeutet, dass die App mir nicht so richtig ausgereift erscheint. Das hat einen Hauptgrund, auf den ich gleich zu sprechen kommen werde.
Das Prinzip der App ist so naheliegend und unüberraschend, dass man sich fragt, ob man dafür überhaupt eine App benötigt. Es geht nämlich darum, sich Eselsbrücken zu bauen. Den Trick kennt man schon aus der Grundschule. Drei, drei, drei: Bei Issos Keilerei als Erinnerungshilfe für die Schlacht bei Issos.
Eselsbrücken? Elementary, my dear Watson
Eselsbrücken: Das ist auch der gängige Tipp, den man sonst zu diesem Thema liest; zum Beispiel hier oder hier:
Damit ist das Prinzip der antiken Mnemotechnik erklärt, das Staub sich zu Eigen gemacht hat. Man durchschreitet mit viel Einbildungskraft in einer festen Reihenfolge etwa die Räume seiner Wohnung und legt auf dem Schrank oder auf einem Tisch bildhafte Vorstellungen ab. «So merken sie sich die 14 Bundesministerien in drei Minuten», sagt Staub. Das Bundesministerium für Landwirtschaft könne dabei beispielsweise durch einen Bauernhof verkörpert werden, das Finanzministerium durch einen Sack mit Geld.
Aber gut. Eine App kann einen an die Methode heranführen und einem helfen, systematisch zu trainieren. Und das tut Name Skillz dann auch. Man soll Bilder in den Kopf bekommen, die mehr oder weniger automatisch auftauchen, wenn man einen Namen hört. Man erinnert sich dann nicht an den Namen, sondern an das Bild und kommt im Umkehrschluss wieder zum Namen.
Die App Name Skillz will einen dazu bringen, bei den typischen Vornamen an konkrete Gegenstände zu denken: Sarah = Sahara; Chris = kiss; Dave = grave; Bill = pill; Jessica = jester; Susan = lazy susan. Und so weiter.
Nicht eingedeutscht
Und das zeigt das Hauptproblem der App: Sie und die Namen sind nicht eingedeutscht. Es nützt mir nichts, wenn ich bei Jessica an jester denke. Erstens, weil ich sehr selten überhaupt Frauen begegne, die Jessica heissen. Zweitens, weil ich erst einmal nachsehen muss, was jester bedeutet. (Es ist ein Narr oder, in dem Kontext eher eine Närrin.) Das gleiche passiert mir mit lazy susan: Das ist eine Drehplatte in der Mitte des Tisches, mit der man die dort aufgestellten Schälchen zu sich hindrehen kann.
Ich würde mit der Name Skillz-App somit vor allem mein Englischvokabular erweitern. Das wäre auch nicht verkehrt, aber eine zusätzliche Hürde. Fazit: Die App ist eine nette Idee, aber sie müsste unbedingt angepasst werden. Eine simple Übersetzung nützt natürlich nichts, weil hierzulande erstens andere Namen gebräuchlich sind und zweitens auch die Begriffe passen müssen.
Abgesehen davon bin ich mir noch nicht einmal sicher, ob sich das Prinzip adaptieren lässt. Im US-amerikanischen Englisch sind die Vornamen sehr kurz und es gibt ein riesiges Vokabular für assoziative Begriffe. Aber in Deutsch?
Man sieht hier die häufigsten Vornamen der Schweiz: Bei den Männern Daniel, Peter und Thomas, bei den Frauen Maria, Anna und Ursula.
Was wären die Assoziationen dazu? Zu Daniel vielleicht Cocker Spaniel, zu Peter der Peterli (hochdeutsch Petersilie) und zu Thomas die Omas? Bei Maria kann man sich immerhin eine Dame vorstellen, die einen bleichen toten Mann in Armen hält. Bei Anna müsste man das Wort «anal» verwerfen und dafür vielleicht in Anspielung Freundeskreis «Regen» nehmen. Aber Ursula?
Ignazio? Viola???
Und das Problem sind womöglich auch nicht traditionellen Namen, sondern eher die exotischen: Cataleya, Zeynep, Phileas, Makbule, Ardefrim oder Shefqet, um nur ein paar zu nennen. Oder ganz exotische Namen wie Ignazio oder Viola.
Zu Viola fällt einem natürlich etwas ein. Trotzdem, jetzt ein kritisches Fazit: Ich fürchte, das Prinzip funktioniert nicht so universell, wie es müsste. Ich glaube auch nicht, dass es viel bringt, sich die Namen isoliert zu merken. Man muss das Bild in Verbindung mit dem Träger entwickeln. Hier wird das so beschrieben:
Verknüpfen Sie den Namen Ihres Gesprächspartners mit seinem Erscheinungsbild oder mit einem «markanten Punkt», z. B. seinem Gesicht, seiner Kleidung oder mit einem interessanten «Hintergrund»-Detail, z. B. seinem Hobby, seinem Beruf oder seinem Wohnort. (…) Eselsbrücken können auch durch Fragen gebildet werden. Sieht Herr Grimm beispielsweise sehr grimmig aus? Macht Frau Hetzer einen gestressten Eindruck?
Auch die Name Skillz-App versucht genau das. Im zweiten Schritt lernt man, die individuellen Merkmale einer Person mit dem Namen in Verbindung zu bringen.
Simple Lebenshilfe
Das ist nun keine Raketentechnik, sondern simple Lebenshilfe, die man sich auch selbst zurechtlegen kann. Aber wenn einer eine Idee hat, wie ich es schaffe, mir die Namen zu merken, wenn mir an einer Party oder einer Geschäftssitzung hintereinander ein halbes oder ganzes Dutzend Leute vorgestellt werden – dann kaufe ich die dazugehörende App, egal, ob sie nun 5 oder 50 Franken kostet. Aber das braucht vielleicht auch einfach nur gaaaaanz viel Übung.
PS: Leider ist auch die Idee für Name Skillz nicht so wahnsinnig originell, wie man meinen könnte. Schon 2012 habe ich eine App vorgestellt, die einem auf die Sprünge helfen wollte: Wenn das Namensgedächtnis versagt, hilft Evernote Hello weiter. Es ist nichts daraus geworden; Evernote Hello wurde aus dem Verkehr gezogen.
Beitragsbild: James Hammond/Unsplash, Unsplash-Lizenz