Jesus und die Katze von Schrödinger

Ein Buch, das mit «Der Jesus-Deal» betitelt ist und sich um Zeitreisen dreht, kann doch nur lächerlicher Schrott sein, oder? Eine plausible Vermutung, die aber ins Leere geht, wenn Andreas Eschbach der Autor ist.

Ein Buch ist wie die Schrödingers Kiste, in der die Katze hockt, von der man ihre Vitalzeichen nicht kennt. Die Katze versinnbildlicht das ganze Panoptikum an Figuren und Ereignissen, das ein Autor vor dem Leser errichtet. Ob diese Katze fröhlich lebt oder tot in der Ecke liegt, erfährt man nur, wenn man das Buch aufschlägt und mit Lesen beginnt.

Bevor man das tut, kann jedes Buch das tollste Buch der Welt sein. Eines, auf das man sein ganzes lesende Leben gewartet hat. Sobald man den ersten Satz gelesen hat, ist diese Möglichkeit bei vielen Büchern definitiv vom Tisch. Und bei den unerfreulicheren Büchern entfremdet man sich mit jedem weiteren Abschnitt vom Autor und seinem literarischen Angebot.

Der Vorgänger des Buchs, «Das Jesus-Video» wurde solide verfilmt. Trotzdem wendet man sich besser dem literarischen Original zu. (Bild: Presseportal.de)

Das Buch Der Jesus-Deal (Amazon-Affiliate) ist ein Buch, dessen Titel einen vermuten lässt, dass die Katze nicht nur tot ist, sondern obendrein verwest und fürchterlich stinkt. Ein «Deal» von oder mit dem Heiland himself muss fast zwangsläufig in einem boulevardesk derart überzogenen Plot enden, dass man nicht nur die Katze verflucht, sondern die ganze Kiste auf den Mond schiessen möchte.

Abgefahrene Wendungen glaubhaft vermitteln

Nun hat dieses Buch aber nicht irgend einer geschrieben, sondern der hochverehrte Andreas Eschbach. Er hat mehrfach bewiesen, dass er auch abgefahrene Wendungen glaubhaft vermittelt. Seine fantastischen Geschichten sind immer hervorragend recherchiert und glaubhaft in der Realität verankert. Seine Hauptfiguren wirken durch ihre feine, detaillierte Zeichnung menschlich. Und der nüchterne, aber dennoch lebendige Stil tut das seine, um dem Leser selbst bei den abenteuerlichsten Handlungspirouetten bei der Stange zu halten. Er ist ein Meister darin, die technischen und wissenschaftlichen Belange des Sciencefiction-Genres naht- und fugenlos mit den universellen Prinzipien der Erzählkunst zu verbinden. Da ist er gründlicher als seine amerikanischen Kollegen Ernest Cline (Armada) oder John Scalzi (Lock in). Ähnliche Stärken hat IMHO Andy Weir (The Martian), auch wenn dessen literarischer Atem noch längst nicht so weit reicht wie der des routinierten Eschbachs.

Kurz: Eschbach ist mit «Der Jesus-Deal» eine hervorragende Fortsetzung seines Buchs Das Jesus Video von 1998 gelungen. Die Geschichte wird intelligent weitererzählt, wobei sie – was nur bei Zeitreisen möglich ist – gleichzeitig die Vorgeschichte und die Fortsetzung erzählt und eine schlaue Überlagerung der Zeitstränge etabliert, die jeden Freund von Back to the Future entzückt1 – nicht ganz so konsequent zirkulär wie in Predestination, dafür deutlich thrilleriger.

Die Biografie der Hauptfigur

Die lange Einstiegsphase mit der Einführung der jungen Hauptfigur Michael Barron, die im streng evangelikalen Umfeld aufwächst, ist Eschbach stimmungsvoll gelungen: Wie die wachsenden Zweifel des Teenagers, die durch den Konflikt seines Vaters und des Bruders genährt werden, doch nie zur Infragestellung der religiösen Doktrin2, sondern nur zu Selbstzweifel führen. Der Vater, Samuel Barron, gibt einen religiös Verblendeten vom Format des Big Jim Rennie aus Stephen Kings «Under the Dome» ab – und das ihn Eschbach aus der anfänglich völlig kritiklosen Perspektive seines Sohns schildert, macht die Sache umso stärker.

Auch der zweite Teil mit dem gefallenen Magnaten John Kaun, der mit der Geschichte eigentlich nichts mehr zu tun haben will und nur durch die Krankheit seiner Tochter wieder in sie hineingezogen wird, führt den Handlungsstrang elegant weiter – wobei man erst im dritten, der Action vorbehaltenen Akt zu ahnen beginnt, wie die Fäden zusammenlaufen.

Ein Fazit in drei Punkten:

Erstens

Ein spannendes Buch, das Jesus weitgehend als historische Figur zeigt3, sich ernsthaft und kritisch mit einer verbohrten Religionsauffassung auseinandersetzt und daher keinerlei Abschreckungspotenzial für Atheisten und Agnostiker aufweist. Da hat sich Eschbach bestens aus der Affäre gezogen.

Zweitens

Eschbach belegt das riesige dramaturgische Potenzial, das in einer Zeitreise steckt. Er legt aber auch dar, dass das allein für eine tolle Geschichte nicht ausreicht. Das schriftstellerische Handwerk ist umso wichtiger, wenn die Handlung unseren Alltagserfahrungen zuwiderläuft.

Drittens

Eine Frage bleibt offen, die aus Spoilergründen nur in den Fussnoten diskutiert wird4. Diese Frage ist gewichtig genug, um die Hoffnung auf einen dritten Teil zu wecken.

Fussnoten

1) Hier eine kurze Zusammenfassung, die wegen der Spoiler niemand lesen sollte, der das Buch noch nicht kennt: Die Geschichte beginnt mit Michael Barron, der unter der Fuchtel seines streng religiösen Vaters Samuel Barron aufwächst. Als Evangelikaler glaubt der an die Wiedergeburt von Jesus – und nicht nur das: Er will sie selbst befördern und im Hier und Jetzt geschehen lassen, selbst wenn er dafür erst die entzeitliche Entscheidungsschlacht Harmagedon über die Menschheit hereinbrechen lassen muss. Und er kann es sich leisten, die Vorkehrungen dafür zu treffen: Er ist nämlich durch eine Nebenwirkung der später von ihm veranlassten Zeitreise als junger Mann in den Besitz einer Zeitschrift aus der Zukunft gelangt, die ihn wie Grays Sports Almanac in «Back to the Future» unermesslich reich macht.

Mithilfe des russischen Physikers Boris Demidow macht sich Samuel Barron nun daran, eine Expedition in die Zeit Jesu zu schicken. Vier Männer sollen durchs biblische Palästina wandern, Jesus treffen, ihn filmen und ihn nach der Kreuzigung und Wiederauferstehung in die Gegenwart bringen – wo er den Ungläubigen vorgeführt werden und das Christentum als einzig wahre Religion etablieren sollte.

Isaak wird als homosexuell geoutet

Nachdem Samuel Barron seinen erstgeborenen Sohn Isaak als Reaktion auf dessen Outing als Schwuler mit Schimpf und Schande aus dem Haus gejagt hatte, sollte nun Michael die Zeitreise-Expedition begleiten. Er wird sorgfältig auf die Reise in die Vergangenheit vorbereitet und tritt sie an. Er begegnet Jesus, kann seinen Auftrag, ihn zurück in die Gegenwart zu bringen, nicht ausführen. Denn plötzlich findet er sich im England der 1940er-Jahre wieder. Auch er wurde offenbar als Nebenwirkung (oder durch das Eingreifen von Gott persönlich zum Erhalt seines Plans und der temporalen Logik?) der Zeitreise temporal entwurzelt.

Er erinnert sich an ein Buch aus seiner Jugend, in der ein Mann namens John Specter das englische Städtchen Barnford vor einem Bombenangriff der Deutschen gewarnt hatte und er realisiert, dass er dieser Mann ist – und dass es seine Bestimmung ist, die Bewohner von Barnford zu warnen und dort die True Church of Barnford zu gründen. Das tut er. Mit dem Wissen um die Zukunft greift er in die Zukunft ein, indem er die Flamme seiner Teenager-Tage vor dem Tod bewahrt, so wie sie es ihm während seiner Ausbildung zum Zeitreisenden erzählt hatte – doch mehr als das, was schon geschehen ist, tut er nicht. Obwohl: Mit der Erinnerung an die unfehlbaren Börsentipps seines Vaters gelangt er selbst zu genügend Vermögen, um ein altes Versprechen zu erfüllen.

Ein religiöses Erweckungserlebnis

Dieses Versprechen gab er vor seiner Abreise in die Vergangenheit dem Medientycoon John Kaun. Der hat im ersten Teil der Geschichte, «Das Jesus-Video», die Suche nach den Spuren der Zeitreise finanziert und vorangetrieben. Er ist nach der Sichtung des Jesus-Videos ein neuer Mann. Er kümmert sich um die Familie und seine kleine Tochter, die an Leukämie erkrankt. Da die Krankheit unheilbar zu sein scheint und er von der Expedition Samuel Barrons Wind bekommt, klammert er sich an einen Strohhalm: Er will mit seiner Tochter in die Vergangenheit reisen und sie dort von Jesus heilen lassen. Er trifft dazu Michael Barron, der meint, das sei aufgrund der begrenzten Plätze im Zeitreisefahrzeug unmöglich. Er stellt ihm aber in eine Heilung nach der Rückkehr in Aussicht – da sie Jesus mit in die Gegenwart bringen würden.

Allerdings ist Michael eben nicht so ganz bibelfest. Ihm ist entgangen, dass «The Second Coming» eine dreieinhalbjährige Entzeit voraussetzen würde. Die treibt Samuel Barron nun voran – mit politischer Einflussnahme über den US-Vizepräsidenten Gerald DenHaag und geopolitischer Destabilisierung. Sein Plan soll in der Zerstörung der al-Aqsa-Moschee gipfeln, damit am alten Platz ein neuer Tempel errichtet werden könnte. Dazu soll ein mit Sprengstoff gefülltes und ferngesteuertes Flugzeug dienen. Zur Vereitelung dieses Plots tritt Stephen Cornelius Foxx auf den Plan, den der Leser bestens aus «Das Jesus-Video» kennt. Mithilfe seiner Frau Judith, deren Ex-Liebhaber Ami und des Flugsimulator-Nerds Mordechai können sie den Tag retten. Samuel Barron wird von einem israelischen Geheimgericht zum Tod verurteilt und von Agenten des Mossad hingerichtet.

Seine Schuld, dass Jesus nicht gerettet wurde

Am Ende erzählt der alte Michael Barron einem seine ganze Geschichte: John Kaun erfährt, dass der Plan, Jesus in die Gegenwart zu bringen, wegen ihm gescheitert ist. Er hat die Vorstellung der Kreuzigung nicht ertragen und wollte eingreifen. Beim Versuch seiner drei Begleiter, ihn daran zu hindern, ist die Zeitmaschine ausser Kontrolle geraten und hat Michael in die 1940-er Jahre katapultiert. Seine drei Begleiter landeten in anderen Epochen: Im shakespearischen Schottland, im alten China und in der prähistorischen Vorzeit, wo noch die Dinosaurier über die Erde trampelten…

Und man erfährt ganz am Schluss, was mit dem Jesus-Deal gemeint ist: Es ist die (implizite) Absprache der Gläubigen mit ihrem Heiland, alles so zu lassen, wie es dem religiösen Geist gefällt. Zitat Michael Barron: «Ich erreichte auch nichts. Sie standen gegen mich, hielten daran fest, dass Jesus sterben und auferstehen müsse, und dann würden sie sich ihm offenbaren. Er weiss doch Bescheid, sagte Tom immer wieder, er weiss Bescheid. Und ihr glaubt, er gehe danach mit euch, hab ich gefragt. Wie stellt ihr euch das vor? Dass ihr zu ihm hingeht und sagt, hi, wir haben dich in aller Ruhe sterben lassen, schön, dass du wieder fit bist, möchtest du nicht einsteigen und mit uns in die Zukunft kommen? Da gäb’s einen Planeten zu reparieren und einem Haufen ähnlich undankbarer Heuchler und Schweinehunde wie uns das Paradies auf Erden zu verschaffen, los, an die Arbeit?

Der erbärmliche Deal hinter der Religiosität

Ich war so erbittert zu sehen, was für ein erbärmlicher Deal hinter der Religiosität steckte, mit der ich aufgewachsen war, umso erbitterter, als ich in der Gegenwart Jesu etwas gespürt hatte, das wirklich war und grösser als alles, was ich kannte. Eine wahrhaftige Transzendenz, wenn Sie mir die Verwendung dieses abgenutzten Wortes für einen Moment erlauben, denn hier, was das betraf, stimmte es. Das war es, wofür dieses Wort einmal geschaffen worden war.»

2) Wenn man von der Diskussion von Michael mit seinem Vater absieht, in der er die berechtigte Frage stellt, warum Judas für seinen Verrat für ewig in der Hölle schmoren muss, wo dieser Verrat für Gottes Plan, durch die Opferung seines Sohns der Menschheit die Vergebung zu bringen, unabdingbar notwendig war. Eine berechtigte Frage, sollte man meinen.

3) Abgesehen von der Wunderheilung eines Feuermals, die er offenbar tatsächlich bewirkt, was im Buch als physischer Akt beschrieben und objektiv durch ein Video gezeigt wird. Daraus lässt sich IMHO in der Geschichte trotzdem kein Gottesbeweis ableiten, da jede andere (ausdenkbare) Erklärung für einen solchen Heilvorgang ebenfalls in Frage kommt. Eschbachs beiden Bücher sind somit auch in einem gottlosen Universum möglich, in dem Religion nur eine Fiktion darstellt.

4) Nämlich wer nun der Tote im Grab war, der in «Das Jesus-Video» gefunden wurde. Diese Frage wird in «Der Jesus-Deal» nicht geklärt (sofern ich nicht etwas überlesen habe). Der Verbleib aller Zeitreisenden wird (siehe Fussnote oben) anderweitig geklärt – es kann also keiner im alten Palästina geblieben sein. John Kaun macht im «Jesus-Deal» die Feststellung, dass der Tote den gleichen Knochenbruch aufweist, wie er selbst – doch da Kaun nie in die Vergangenheit reist, sondern in der Gegenwart bei der Knochenmarkspende für seine Tochter das Leben lässt, scheint diese Bemerkung ins Leere zu zielen. Oder ist sie doch Anzeichen für einen Teil drei? Doch wie könnte der den doppelten Tod des John Kaun erklären?

2 Kommentare zu «Jesus und die Katze von Schrödinger»

  1. Zu Fußnote 4: Die Frage nach dem Toten im Grab wird nicht nur nicht geklärt, sondern explizit formuliert. Sinngemäß aus dem “Jesus-Interview”: Ich weiß nicht, wer die Aufnahme der Heilung des Feuermals gemacht hat. Wir waren es nicht. Dazu waren wir viel zu überrascht von der Situation. Vielleicht ein anderer Zeitreisender.

    (Habe eben das Hörbuch zu Ende gehört.)

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