Luftaufnahme einer Universitätscampus-Anlage mit mehreren rechteckigen Backsteingebäuden und einem grösseren, zentralen Gebäude im Vordergrund. Im Hintergrund befinden sich bewaldete Hügel. Mehrere Parkplätze sind sichtbar und auf den Strassen fahren Autos.

Ein Podcast wie ein Stich ins Herz

«Liberty Lost» erlaubt einen tiefen Blick in die un­men­sch­li­chen Welt der evan­ge­li­ka­len Ge­mein­den der USA: Wie Frauen ihre un­ehe­lich ge­bo­re­nen Babys zur Adop­tion frei­ge­ben müssen, um ihre «Ehre wie­der­her­zu­stel­len».

Dieser Podcast könnte ein modernes Remake von «The Handmaid’s Tale» sein. In der düsteren Erzählung von Margaret Atwood werden Frauen von Geburt weg in die Rolle der Magd gedrängt, wobei diese Bezeichnung eine krasse Beschönigung ist. Doch Liberty Lost (RSS, iTunes, Spotify) ist keine fiktionale Erzählung, beileibe nicht: Diese achtteilige Produktion konfrontiert uns mit der investigativen Recherche von T. J. Raphael im evangelikalen Milieu der USA.

Die Gemeinsamkeit liegt darin, dass Frauen komplett auf ihre reproduktiven Fähigkeiten reduziert werden. Im Detail scheint das aber auf gegenläufige Weise zu passieren. In Atwoods Buch von 1985 degradiert die Gesellschaft Frauen zu Gebärmaschinen. In der Reportage aus der Gegenwart dürfen sie auf keinen Fall schwanger werden – zumindest nicht, solange sie minderjährig und unverheiratet sind. Doch im Verlauf der Geschichte verschwindet dieser vermeintliche Gegensatz und es treten im Podcast Leute zutage, denen diese in angeblicher Sünde geborenen Babys gar nicht so ungelegen kommen.

Geächtet und abgeschoben

T. J. Raphael schildert das Schicksal von Abbi, die mit 16 Jahren schwanger wird. Auf die Hiobsbotschaft reagieren ihre Eltern erst mit Mitgefühl, können dann aber doch nicht aus ihrer evangelikalen Haut. Sie stecken Abbi ins Liberty Godparent Home. Das ist ein düsteres Anwesen auf dem Campus der Liberty University im US-Bundesstaat Virginia, wo die jungen Frauen auf den «Weg der Tugend» zurückgeführt werden. Das bedeutet: komplette Abkapselung von der Welt und Bevormundung auf allen Ebenen. Sie dürfen nicht die Kleider tragen, die sie wollen, keine eigene Musik hören, und sogar beim Öffnen des Fensters erklingt ein Alarm. Nathan, Abbis Freund und Vater des ungeborenen Kindes, wird der Eindruck vermittelt, seine Freundin wolle nichts mehr mit ihm zu tun haben.

Aber geht es wirklich nur um die Wiederherstellung der Ehre dieser werdenden Mütter? Die Kirche, die das Heim betreibt, sammelt fleissig Spenden für die Schwangeren. Sie entwickelt auch einen Plan, was mit den Babys geschehen soll: Die sollen guten und vor allem verheirateten christlichen Ehepaaren anvertraut werden. Die Nachfrage an Kindern ist gross. Adoptionsagenturen machen gute Geschäfte mit der Vermittlung.

Ein einträgliches Geschäftsmodell

Nebenbei sind die Frauen und ihre ungeborenen Kinder auch perfekte Komparsen im Kampf der kirchlichen Fundamentalisten gegen die Abtreibung. Das Mütterheim ist die Erfindung von Jerry Falwell, der als Speerspitze des evangelikalen Amerikas auch die Liberty University gründete und der den Kampf gegen das Abtreibungsgesetz Roe v. Wade in ein einträgliches Geschäft ummünzte (1, 2, 3, 4, 5).

In der vierten Folge, Hush, Little Baby, ist es so weit: Abbi bringt ihr Kind auf die Welt und darf drei Tage mit ihm verbringen. Während dieser Tage sollen sie und Nathan die Dokumente unterschreiben, mit denen sie ihre elterlichen Rechte abtreten. Mit ihrer seelischen Not sind die jungen Eltern allein. Die Beraterin sagt, sie könne doch nicht ernsthaft in Erwägung ziehen, den Adoptiveltern ihr Kind vorzuenthalten.

Kein Funken Nächstenliebe

Man muss nicht selbst Mutter oder Vater sein, um sich auszumalen, wie unsagbar schrecklich sich diese Situation für einen selbst anfühlen würde – das eigene Kind ein paar Stunden nach seiner Geburt hergeben zu müssen. Und «Liberty Lost» lehrt uns, wie fliessend der Übergang zwischen Realität und Fiktion sind: Das Liberty Godparent Home ist zwar nur ein einzelnes Mütterheim, während bei Atwood ganz Gilead eine Zone ohne Frauenrechte ist. Aber macht das für die Betroffenen einen Unterschied?

Verabschieden müssen wir uns auch von der schwarz-weiss gemalten Vorstellung, wir im Westen seien gefeit vor derlei Barbarei. Nein; dieser Abgrund tut sich nicht im Irak, in Afghanistan oder in Saudi-Arabien auf, sondern im «Land of the Free». Und diese Zustände herrschen auch nicht erst seit der Ära Trump, wo Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Freiheitswerte wanken. T. J. Raphael blendet nämlich zurück in die Baby Scoop Era von 1945 bis ungefähr 1973. Schon damals wurden viele schwangere, unverheiratete Frauen in Heime abgeschoben und ihre Kinder unter Zwang zur Adoption freigegeben, um den gesellschaftlichen Schein zu wahren.

Und selbst in diesem Land wohnen wir nicht auf einer Insel der Glückseligkeit. Die Schweiz nahm noch bis 1972 Familien von Fahrenden, besonders Jenischen, die Kinder weg. Und noch später – und hier spreche ich aus eigener Erfahrung – hat man jungen Müttern ohne Trauschein die Fähigkeit abgesprochen, ihr Kind allein aufziehen zu können und ihnen einen Vormund an die Seite gestellt.

Beitragsbild: Der Campus der Liberty University in Lynchburg, auf dem auch das Mütterheim «Liberty Godparent Home» angesiedelt ist (Lukas Souza, Unsplash-Lizenz).

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