Marc-Uwe Kling ist ein Autor, den viele – ach, was sage ich! – den alle Eltern vom Neinhorn kennen: Das ist eine Kinderbuchfigur, die wegen ihrer fehlenden Liebenswürdigkeit so liebenswürdig ist. Sie ist grantig, nonkonformistisch und erfüllt deshalb eine Eigenschaft, die Eltern bei ihren Kindern unbedingt sehen wollen: Sie ist resilient.
Kling ist auch ein prononcierter Kommentator der technologiegetriebenen Umwälzungen, die wir derzeit erleben: «QualityLand» von 2017 hat wie das «Neinhorn» einen humoristischen Grundton, obwohl das Thema überhaupt nicht lustig ist: Die Welt ist nämlich in einen von Unternehmensberatern geprägten Techno-Faschismus reingerutscht, der den Menschen alle ihre Konsumwünsche erfüllt, sie aber mittels Daten und Algorithmen der völligen Kontrolle unterwirft. Das macht Spass beim Lesen, führt aber auch zur Frage, was schlimmer wäre: QualityLand, oder das Chaos, das wir derzeit mit Trump und Musk erleben.
Es gibt ein weiteres Buch, das sich der Frage widmet, wie wir mit dem brutalen Tempo der technischen und gesellschaftlichen Veränderungen zurechtkommen – oder eben nicht. Views (Amazon Affiliate) stammt von 2024. Als erstes fällt auf, dass bei diesem Buch zwar der kling’sche Humor durchscheint, dass es sich aber in ernsthaftem Ton mit seinem Thema auseinandersetzt. Wie der Titel verrät, sind das die Auswüchse der Aufmerksamkeitsökonomie.
Bei dieser Kritik legt Kling den Finger zur richtigen Zeit und auf die richtige Weise in die Wunde: Ich habe hier im Blog mehrfach berichtet, wie der Wahrheitsgehalt einer Meldung in den sozialen Medien nicht mehr nur zweitrangig ist, sondern oftmals überhaupt keine Rolle mehr spielt. Das zeigt sich beim Engagement Farming oder auch bei der Plage der KI-Bilder auf Facebook: Die gaukeln Dinge vor, die nichts mit der Realität zu tun haben. Und dass ein Teil des Publikums die Lügen erkennt, aber sich nicht daran stört und der andere Teil halt verarscht wird, ist inzwischen völlig egal.
Bis die Leute aufeinander losgehen

«Views» verpackt diese Kritik in ein Kriminalstück: Yasira Saad ist die Hauptfigur, eine Ermittlerin beim BKA, die mit den Ermittlungen zum Verschwinden einer jungen Frau betraut ist. Dieser Fall birgt maximalen Sprengstoff, weil bald ein Video auftaucht, in dem die junge Frau von schwarzen Männern, mutmasslich Geflüchteten, vergewaltigt wird. Es wird sofort von rechten und rechtsradikalen Kreisen ausgeschlachtet, die agitieren und polarisieren. Es kommt zu einem willkürlichen Vergeltungsakt und zur Strassenschlacht mit Toten.
Um den Plot zu erklären, muss ich einige Spoiler anbringen. Die kommen wie üblich erst nach meinem Fazit. Das lautet, dass «Views» sowohl als Krimi als auch als Zeitkritik funktioniert. Bis auf den Schluss: Er war mir zu plakativ, und die Gewalt, die der Autor seiner Hauptfigur Yasira Saad antut, ist unnötig und exzessiv. Marc-Uwe Kling will einen Punkt machen, der schon vor dieser Szene bei den Leserinnen und Lesern angekommen ist.
Wie seinerzeit bei «Twin Peaks»
Also, hier mit Spoilern (im Detail bei Wikipedia): Yasira Saad, ihr Kollege Michael Becker und ihr Team versuchen mit grossem Einsatz, das Verschwinden von Lena Palmer aufzuklären. Der Name ist kein Zufall, sondern eine bewusste Anspielung an Laura Palmer aus Twin Peaks von David Lynch. Sie war auf dem Weg zu ihrem Freund, kam aber nie dort an. Weder ihr Vater noch der Freund können weiterhelfen. Das Video sollte eine heisse Spur sein, ist es aber nicht: Es ergeben sich daraus keine Rückschlüsse, weder auf die Personen in der Aufnahme noch auf den Tatort. Der Druck aufs BKA, auf Saad selbst und von ihrem Chef nimmt zu. In dieser Situation kommt der Ermittlerin plötzlich ein Gedanke: Was, wenn das Video nicht echt ist? Die künstliche Intelligenz hat solche Fortschritte gemacht – wäre es nicht möglich, einen solchen Clip perfekt zu fälschen?
Auch wenn ihr Vorgesetzter skeptisch ist und sie sich in die Nesseln setzt, als sie diese Vermutung an die Presse durchsticht: Es erweist sich als der richtige Weg. In der Tat: Claus Messerschmidt war der Technikchef (CTO) des Unternehmens AlmostReal, das KI-Videos in Perfektion erzeugt – um Welten besser, als Sora das bislang beherrscht. Um Werbeeinnahmen zu generieren, setzt er eine KI namens Scarlett (natürlich muss da wieder einmal Frau Johansson herhalten) darauf an, Videos zu generieren und automatisch zu veröffentlichen, die eine maximale Reichweite versprechen. Sie hat dieses eine Video erzeugt und mit weiteren Clips die Ereignisse angeheizt. Messerschmidt selbst konnte nicht mehr eingreifen; der fiel nämlich eines Tages tot um. Das Verbrechen an Lena war letztlich trivial: Ihr Freund, mit dem sie Drogen nahm, hat das Fentanyl falsch dosiert.
Beitragsbild: Wenig, was hier erscheint, ist noch real (Photo By: Kaboompics.com, Pexels-Lizenz).