Seit ein paar Wochen gibt es hier im Blog die Rubrik Der Online-Shit der Woche. Sie ist so fulminant gestartet, dass ich heute genügend Motivation verspüre, den Stier bei den Hörnern zu packen und den grössten Scheisshaufen zu besteigen, den das Netz zu bieten hat.
Aber ich sollte präzis sein. Es geht weniger um eine Fäkalien-Aufschüttung als vielmehr um eine Jauchegrube: Wenn ihr bei diesem Wort an Bauernhöfe und Landwirte denkt, seid ihr genau richtig. Es geht nämlich um die sogenannten Engagement-Farmer. Ich kann nicht mehr rekonstruieren, wo ich diese Bezeichnung aufgeschnappt habe. Vielleicht auf Reddit?
Echte Kohle für virtuellen Scheiss
Jedenfalls trifft die sie den Nagel auf den Kopf: Diese Engagement-Farmer bewirtschaften die Gefühle der Nutzerinnen und Nutzer von sozialen Medien Sie säen Botschaften, die die ganze Bandbreite menschlicher Emotionen ansprechen. Als Lohn für diese ernten sie Klicks, Likes, Retweets bzw. Reposts und meist Dutzende oder Hunderte Kommentare. Mit dem Engagement ist die Bereitschaft der Nutzer der Plattformen gemeint, sich affektiv auf den Post einzulassen.
Diese Tätigkeit wird nicht nur mit einer grossen Reichweite belohnt. Es gibt auch die Möglichkeit, echtes Geld zu verdienen. Twitter teilt Werbeeinnahmen mit Accounts mit Millionenpublikum. James ist auf diesem Feld ein Schwergewicht, der einen satten Monatslohn einfährt. Ohne dass er bei seinem Tagewerk gross ins Schwitzen kommt.
Jeder kaut vom anderen
Denn im Gegensatz zur echten Landwirtschaft ist die Arbeit der Engagement-Farmer nicht sonderlich anstrengend. Im Gegenteil: Sie ziehen sich ihre Inhalte nicht selbst, sondern klauen sie von den Feldern der anderen Engagement-Farmern. Der grosse Vorteil von digitalen Erzeugnissen gegenüber realen Agrarprodukten besteht bekanntlich darin, dass sie sich beliebig weiterverwenden lassen.

Wichtig ist eine Konsistenz beim Produkt: Die Beiträge müssen inhaltlich und bezüglich Tonalität passen. Wer für schlüpfrige Männerwitze bekannt ist, muss schlüpfrige Männerwitze liefern. Der Kanal mit den lustigen Tierfotos kann nicht plötzlich mit Bibelzitaten um sich schmeissen. Und wer sich, wie James, einen Namen gemacht hat, dumme oder ungeschickte Menschen der Lächerlichkeit preiszugeben, sollte nicht plötzlich auf aufbauende Lebensweisheiten umschwenken. Wichtig ist, dass die Reaktion beim Publikum plus/minus die gleiche bleibt: Lachen, «Jöööööh!», Optimismus, Lebensfreude.
Das Süsse klickt gut – aber das Bittere noch viel besser
Aber nicht alle Landwirtschaftsbetriebe ziehen Erdbeeren, Pflaumen und Liebstöckel. Es gibt auch die mit Broccoli-, Fenchel- und Spinatfeldern. Wobei, offen gestanden, hier meine Analogie der Pflanzenwelt Unrecht tut. Es geht um jene Engagement-Farmer, die sich in einem politischen, gesellschaftlichen oder kulturellen Umfeld bewegen und dort nicht Kompromisse und Verständigung ernten wollen, sondern Schadenfreude, Abneigung, Ausgrenzung, Ablehnung und Hass.
Es zeigt sich, dass diese Gefühle besonders ergiebig spriessen, und so posten diese Leute dann halt Memes gegen Windräder, Impfungen, Elektroautos oder Ausländer. Sie blasen das Horn der AfD. Sie preisen die Schönheit arischer; pardon: nordischer Frauen. Oder sie hetzen gegen alles Fremde. Je bitterer und böser es wird, desto mehr gibt es Leute, die das nicht nur wegen der Klicks, sondern aus echter Radikalisierung tun. Dann sind es auch keine Memes mehr, die in Umlauf gesetzt werden, sondern Fake News oder unverblümte Hassbotschaften.
Sind das noch Engagement-Farmer oder schon Prediger des Bösen? Wenn man die Leute nicht an ihren Motiven misst, sondern daran, dass sie sich ihr Überkleid anziehen und sich in den morastigen Untergrund der sozialen Medien stürzen, mit dem Ziel, möglichst viele Reaktionen auszulösen, dann dürfen wir sie alle über einen Kamm scheren.
Eine unheilige Verbindung
Zumal es noch eine weitere Gemeinsamkeit gibt: Sie alle erhalten Subventionen. Nicht von Staat und Steuerzahlern, aber von den Plattformbetreibern. Deren Algorithmen fördern die Engagement-Farmer, ungeachtet der Produkte, die sie zum Marktplatz der öffentlichen Ideen karren. Sie tun das, was die Zuckerbergs und Musks lieben: Sie halten Nutzerinnen und Nutzer auf der Plattform, erhöhen die Verweildauer und die Gelegenheit, Daten zu sammeln und Werbung auszuspielen.
Wer es nicht glaubt, soll sich ein neues Konto bei Facebook, Instagram oder Twitter einrichten und dort den Feed ansehen, der nicht von persönlichen Vorlieben geprägt ist. Bei Facebook tauchen nebst ein paar grossen Medien ausschliesslich Engagement-Farmer auf. Seiten wie …
- Gentlemans Club,
- Liebevolle Gedanken,
- Dinge, die ein Dorfkind nicht sagt,
- Troublemakers,
- Muss ich sehen,
- Nur dumme Sprüche,
- Swobotastisch,
- Dich Dorfhupe haben sie doch mit einer Currywurst aus dem Dorf gelockt,
- Bob der Pfuscher,
- Dorfkindermomente,
- Nein, Stil ist nicht das Ende des Besens,
- Kultkarren,
- Bekloppt? Hier biste richtig,
- Mutterliebe,
- Atemberaubende Wohnideen und
- Dinge, die ein Dorfkind nicht sagt.
Wir sehen schon an diesen Namen, wie gross die Vorliebe von Facebook für den dörflich-ländlichen Menschenschlag ist.
Diese Social-Media-Diät ist zu einseitig
Also, ich denke, dass Ihr inzwischen allesamt die Nase voll von meiner Landwirtschafts-Analogie habt. Darum lasst mich dieses Thema hier mit dem Fazit unterpflügen, dass ich damit leben kann, dass es in den sozialen Medien ein Bedürfnis an oberflächlichem Zeug gibt, das nicht aufs Hirn, sondern auf den Bauch zielt.
Aber wenn ich eine Social-Media-Plattform bewirtschaften würde, dann würde ich mich schon darum bemühen, dass nicht der Hors-sol-Kram alles andere überwuchert, sondern auch mal etwas Biologisch-Dynamisches – etwas Selbstgezogenes, Organisches; etwas, das ohne algorithmischen Kunstdünger gewachsen ist, sich zur Sonne strecken kann …
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