Twitter als braune Schlangengrube

Ein Bild, ein fieser Text, ein kurzer Lacher – das ist es, was diese lustigen Bilder in den so­zia­len Medien bewir­ken sollen. Ich habe beim erst­bes­ten Meme tiefer ge­gra­ben und erschreckt fest­ge­stellt, wie schnell es mit dem Spass vorbei ist.

Sind Memes nur für einen kurzen Lacher gut? Oder gibt es, zumindest manchmal, auch eine Hintergrundgeschichte zu entdecken?

Das habe ich mich neulich gefragt, als mir Twitter einen dieser «lustigen» Tweets vor den Latz geknallt hat. Ungefragt, natürlich. Ich bin versehentlich in der Für dich-Timeline gelandet und hatte dort Kontakt mit der Meme-Schleuder namens @PicturesFoIder. Hinter der steckt James, der mit seinem Account mutmasslich ein sattes Einkommen generiert. Und das, obwohl er keine eigenen Inhalte verbreitet, sondern nur Zeugs, das teils seit ewig im Netz kursiert.

Auch das fragliche Meme stammt nicht von James selbst, wurde aber von ihm veröffentlicht und vom Twitter-Algorithmus mit einer ungeheuren Reichweite geadelt.

Der Fluch der viralen Inhalte

Das Meme …

Das Meme zeigt den Screenshot eines Tweets. Auf dem ist eine junge Frau mit zwei Selfies und dem Text «German-Argentinian» zu sehen. Und einer hat darübergeschrieben: «Niemand sollte sie fragen, was ihr Grossvater zwischen 1936 und 1945 gemacht hat.»

Ich habe gelacht, fand das scharf beobachtet – und nach ein paar Sekunden Nachdenkens auch extrem unfair. Ja, vielleicht ist ihr Grossvater ein aus Deutschland geflüchteter Nazi. Aber dafür kann die junge Frau nichts. Und dass solche brutalen Urteile derart unvermittelt erfolgen und dann viral gehen, ist ein Auswuchs der sozialen Medien.

Ist dieses Meme überhaupt echt?

… der Original-Tweet …

Bei solchen Memes müssen wir uns immer fragen, ob sie überhaupt echt sind. Ich habe es bei memedroid.com entdeckt, aber auch der Ursprungs-Tweet lässt sich schnell aufstöbern (inzwischen wurde er allerdings gelöscht). Von wem die Frage im Drüko stammt, ist im Meme nicht ersichtlich. Aber auch jener Tweet findet sich: Er hat drei Likes, wurde viermal retweetet und hat null Antworten. Verblüffend, dass aus einem fast wirkungslos verpufften Tweet ein erfolgreiches Meme werden kann.

Der Ursprungs-Tweet stammt nicht von der deutsch-argentinischen Frau auf dem Bild, sondern von einem Account namens @nordgirls. Er hat es sich zur Aufgabe gesetzt, täglich «nordische, alpine und slawische Reize» zu verbreiten. Das tut er, interessanterweise, aus dem Schweizerischen Luzern, und er hat seit November 2022 36’702 Follower angesammelt.

Turnerfest oder Hitlerjugend?

… und rassistische Vibes vom Nordgirls-Account.

Die Reize bestehen aus leicht bekleideten Frauen, die jeweils mit ihren Herkunftsbezeichnungen veröffentlicht werden. Bemerkenswert ist das Banner-Foto im Account. Ich habe versucht, es mit der Google-Bildersuche aufzuspüren. Ich bin nicht fündig geworden, aber ich habe eine Reihe ähnlicher Bilder gefunden, die von grossen Turnfesten oder aber von Aufmärschen der Hitlerjugend stammen.

Vielleicht geht es nur um Massensport, doch angesichts der langen, für den Sport unpraktischen Röcke und in Kombination mit den «nordischen Reizen» liegt die Vermutung nahe, dass dieser Account eine Reminiszenz an den Bund Deutscher Mädel im Nazireich ist. Das Abfeiern von Frauen nur aufgrund ihrer nordischen Abstammung ist aber so offensichtlich rassistisch, dass es fast egal ist, ob meine Annahme nun zutrifft oder nicht.

An dieser Stelle gilt es, mehrere Dinge festzustellen:

  • Der Drüko mit der Nazi-Anspielung ist in diesem Kontext keine Gemeinheit. Nein, er trifft den Nagel auf den Kopf, da es diesem Twitter-Account nur um rassistische Propaganda geht.
  • Dieser rassistische Kontext hat nicht verhindert, dass aus dem Ursprungstweet ein Meme wurde, das auf Twitter zum Zweck der Unterhaltung verbreitet wird.
  • Accounts wie der erwähnte @PicturesFoIder sehen es nicht als ihre Aufgabe an, Quellenkritik zu betreiben und sich zu fragen, ob ein Tweet, der ursprünglich eine überschaubare Reichweite hatte, unbedingt einem viel grösseren Publikum zugänglich gemacht werden sollte.

Man kann sich auf den Standpunkt stellen, dass kaum je einer sich die Mühe macht, Nachforschungen anzustellen, wie ich es getan habe – und das Meme selbst daher vermutlich auch nicht gross zur Promotion des rassistischen Nordgirls-Accounts beiträgt.

Eine Verharmlosung und Verrohung

Ich bin dezidiert anderer Meinung: Twitter als Plattform nimmt die Verantwortung nicht wahr und auch die Betreiber solcher Accounts stehen in der Pflicht, scheinbar lustige Inhalte nicht gedankenlos weiterzuverbreiten. Wenn rassistische Tweets als reines Unterhaltungsmaterial enden, dann geht damit eine massive Verharmlosung einher. Abgesehen davon, dass man sich fragen kann, warum dieser Account nicht längst gesperrt ist¹.

Gibt es eine Erkenntnis? Meines Erachtens die, dass sich oft eine Schlangengrube auftut, sobald man sich für die Hintergrundgeschichte vieler Memes interessiert. Was sich unterscheidet, ist höchstens die Art der Schlangen, auf die man im Einzelfall stösst.

Fussnoten

1) Ich habe meine Nachforschungen vor ein paar Wochen angestellt. Inzwischen ist der @nordgirls-Account nicht mehr öffentlich zugänglich. Die Tweets sind geschützt und das mutmassliche Jungmädelbund-Bild musste einer Aufnahme von Nordlichtern weichen. Warum das passiert ist, kann ich nicht nachvollziehen. Es könnte sein, dass der Betreiber aufgrund von Kritik oder vielleicht auch aus Angst vor rechtlichen Folgen kalte Füsse bekommen hat. Es bleibt aber dabei, dass Twitter es nicht für nötig befand, den Account zu sperren.

Beitrag: Einmal in den sozialen Medien nicht aufgepasst (Dall-e 3).

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