Das Problem mit den Superhelden

Wie wäre es, plötzlich die Gedan­ken der Mit­men­schen lesen zu können? Douglas E. Richards stat­tet in seinem Tech-Thril­ler «Mind’s Eye» seine Haupt­fi­gur Nick Hall mit dieser ein­drück­li­chen Fähig­keit aus. Leider macht die relativ wenig daraus.

Jedes Genre in Film und Literatur hat seine spezifische Herausforderung. Bei den Superhelden-Geschichten besteht die darin, dass der Autor einen Kniff benötigt, um den Helden in eine Situation zu bringen, die trotz seiner überlegenen Fähigkeiten lebensgefährlich oder existenziell erschütternd ist. Denn während die meisten von uns in ihrem eigenen Leben auf die grossen Dramen und Krisen verzichten können, sind sie für eine spannende Geschichte zwingend.

Es gibt eine überschaubare Anzahl von Dingen, die die Autorinnen und Autoren den überragenden Fähigkeiten ihrer Figuren entgegenstellen können: Die offensichtlichste ist ein Gegner, der auf seine Weise übermächtig oder genial ist. Ebenso auf der Hand liegt eine spezifische Schwäche wie Supermans sprichwörtliches Kryptonit.

Aus grossen Fähigkeiten folgt grosse Verantwortung … und so weiter

Zu den Angriffspunkten der Superhelden zählt auch gerne ein innerer Konflikt wie bei Batman, die Erpressbarkeit durch ihr Doppelleben oder über Familienmitglieder oder geliebte Personen, die keine überragenden Fähigkeiten besitzen. Und es kann eine Art Schicksal oder Fluch auf dem Helden lasten. Ein eindrückliches, melancholisches Beispiel für diese letzte Möglichkeit liefert Andreas Eschbach in «Der letzte seiner Art», wo der Superheld wegen seiner Andersartigkeit ein einsames, abgeschiedenes Leben fristet.

Das Potenzial nicht ausgeschöpft.

Im Buch Mind’s Eye, auf Deutsch Gedankenblick, setzt Douglas E. Richards einen Superhelden namens Nick Hall in die Welt. Dessen «Geburt» verläuft nicht gerade heroisch: Hall erwacht in einem Müllcontainer, ohne Erinnerung an sein früheres Leben, aber mit vielen fremden Stimmen im Kopf. Hall merkt, dass er in der Lage ist, die Gedanken seiner Mitmenschen aufzufangen. Nicht nur das: Er kann auch allein mit seinen Gedanken durchs Internet surfen, Informationen abrufen und E-Mails versenden.

Wie wäre es, zum Voyeur wider Willen zu werden?

Das ist eine Ausgangslage, in der viele der typischen Wendungen von Superhelden-Geschichten möglich wären. Auf der Hand liegt für mich die psychische Belastung, die unweigerlich mit dieser Fähigkeit einhergehen muss. Der Gedankenleser wird Zeuge von Schmerz, Hass, Verzweiflung, bösen Absichten und Erinnerungen an ungesühnte Verbrechen und alltäglichen Grausamkeiten. Um eine solche Geschichte glaubhaft zu erzählen, kommt der Autor meines Erachtens nicht darum herum, seinen Helden in die Einsamkeit zu schicken – zumindest für eine gewisse Zeit, bis er gelernt hat, mit seiner neuen Fähigkeit umzugehen und sich vor diesem Strom von fremden inneren Monologen abzugrenzen.

Doch Douglas E. Richards gibt Nick Hall diese Gelegenheit nicht. Stattdessen muss der Held sich sogleich gegen mehrere Mordversuche zur Wehr setzen – was ihm trotz widriger Umstände locker gelingt, weil er sich über die Absichten der gedungenen Killer problemlos ins Bild setzen kann. Wir bekommen es in «Mind’s Eye» mit der Erzählvariante des übermächtigen Gegenspielers zu tun. Der ist klug und strategisch wie ein Grossmeister im Schach und hat eine religiöse Mission, von der niemand nichts ahnt.

Der Bösewicht überzeugt nicht

Mit anderen Worten: Der Autor verfolgt den naheliegendsten aller Handlungsverläufe. Er macht das zwar nicht schlecht. In den letzten Kapiteln gibt es einige Wendungen, die für Überraschung sorgen und die ich nicht vorausgesehen habe. Trotzdem bleibt es eine konventionelle Geschichte, die mit schlimmen Klischees operiert.

Hier mein Fazit, bevor ich dann noch etwas mehr zur Geschichte sage: Natürlich ist es ein legitimes, wenngleich überstrapaziertes Stilmittel, dass im Thriller am Ende nichts so ist, wie es am Anfang schien. Das Problem bei «Mind’s Eye» besteht darin, dass alles zu konstruiert wirkt. Die Figuren verändern sich im Lauf der Geschichte, wie es dem Autor gerade passt. Auch die Liebesgeschichte wirkt wie ein Versatzstück, das der Autor als unverzichtbar erachtet hat. Nick trifft auf seiner Flucht auf Megan Emerson, deren Gedanken er aus ungeklärten Gründen nicht lesen kann. Immerhin spielt sie beim Showdown eine wichtige Rolle – was sie vom Nerd in der Geschichte unterscheidet: Alex Altschuler ist so etwas wie ein NPC.

Also: Als Comic würde diese Story vielleicht funktionieren, vielleicht auch als Film. Als Thriller in Buchform kann sie ihr Potenzial nicht entfalten. Zu sehr bleibt sie an der Oberfläche, zu wenig packen die Dialoge, Figuren und die Actionsequenzen – ein Manko, das auch Richards Buch «Portale» aufweist.

Hier noch einige Details zur Geschichte, in der ich auch erkläre, warum ich von all den plakativen Aspekten die unoriginelle Verteilung von Gut und Böse am schlimmsten finde. Das geht ab hier nur mit dicken Spoilern!

Die Rolle von Gut und Böse sind so klar verteilt wie im Kalten Krieg

Der Bösewicht ist ein Gotteskrieger in Allas Diensten, ein Dschihadist, der die westliche Lebensart als solche auf dem Kieker hat – seine Eltern haben in Israel als Selbstmordattentäter einen Schulbus in die Luft gesprengt.

Eine Geschichte aus dem Kalten Krieg. Da das Buch 2014 geschrieben wurde, muss nicht der Russe, sondern der Araber als Bösewicht herhalten. Und auch auf der Seite der Guten ist alles so, wie es sich gehört: Der US-General Justin Girdler, der beim Militär die geheime Psyops-Abteilung leitet, steht auf der Seite der Guten. Und das, obwohl es anfänglich so aussah, als ob der General aus Gründen der Staatsräson Nick Hall aus dem Weg räumen würde.

Mir ist diese Zuordnung von Gut und Böse viel zu platt, und die Geschichte funktioniert auch nur deswegen, weil Douglas E. Richards ein Verwirrspiel sondergleichen anrichtet. Der am Anfang eingeführte Bösewicht John Delamater ist bloss ein Phantom. Der infame Kelvin Gray seinerseits muss unerwartet früh über die Klinge springen. Dieser Gray hat mit seinem Unternehmen die Implantate entwickelt, die Nick das Surfen per Gedankenkraft ermöglichen und die als unerwarteter Nebeneffekt Nick auch zur ESP (extrasensory perception bzw. aussersinnliche Wahrnehmung) befähigen. Er hat dafür Menschenexperimente durchgeführt, bei denen 25 Leute gestorben sind und Hall seine Erinnerungen gekostet hat – zumindest temporär.

Am Ende siegt der Patriotismus

Als Drahtzieher entpuppt sich Cameron Fyfe, der anfänglich bloss als unscheinbarer Investor in Grays Unternehmen auftritt. Doch er steckt auch hinter der Figur des Delamater, und er verfolgt die Absicht, die dekadente westliche Welt mit diesen Internet-Implantaten auszustatten, um dann einen Gehirnvirus auf die Nutzerinnen und Nutzer loszulassen. Er heisst eigentlich Hassan Ahmed Abdullah, hat sich aber für seine Mission so gut integriert, dass niemand auch nur das geringste ahnte.

Das ist nicht sehr glaubwürdig, und Fyfe alias Delamater alias Abdullah bleibt als Figur blass. Ihre Motivation wird in einer biografischen Passage abgehandelt, aber nicht weiter fassbar. Das ist die grösste Schwäche. Denn wie wir schon von Bond, James Bond wissen, ist die wichtigste Figur nicht der Held, sondern sein Gegenspieler.

Am Ende der Story siegt der Patriotismus: Justin Girdler rekrutiert die Helden Hall, Emerson, Altschuler und dessen Freundin Heather Zambrana, damit die USA in Sachen ESP die Oberhand behalten – Nicks Fähigkeit ist nämlich publik geworden. Das dürfte nun zu einem internationalen Wettrüsten in Sachen Aussersinnlichkeit führen, bei dem die USA natürlich die einzige Supermacht bleiben will. Die Vermutung steht im Raum, dass es bei den Fortsetzungsbüchern (Brainweb, Mindwar, Unleashed) genau derlei Ereignisse geht. Die nehmen aber wohl ohne mich ihren Lauf.

Beitragsbild: Hier wurde ein Superheld geboren (Abel Matthew, Pexels-Lizenz).

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