«Computernetze gewinnen rasch an Bedeutung»

Wann und wie haben die Schwei­zer Medien zum ersten Mal übers Inter­net berichtet? Die Nach­for­schungen sind er­nüch­ternd: spät und ohne das Poten­zial voll zu erken­nen.

Gestern wollte ich herausfinden, wann in den Schweizer Medien das Internet zum ersten Mal erwähnt worden ist. Dabei bin ich auf völlige Abwege geraten und im Engadin des 19. Jahrhunderts gelandet.

Also, ein zweiter Anlauf: Welches Schweizer Medium hat zum ersten Mal über das Internet berichtet – und wie?

Diese Nachforschung erweist sich als tückisch: Im digitalen Zeitungsarchiv gibt es viele falsche Treffer, bei denen Worte wie «Internat» oder «internat.» als Abkürzung für «international» aufgeführt sind. Um nicht Hunderte Einträge durchsehen zu müssen, braucht es einen Zusatz, um die Suche einzugrenzen. Klar, der Computer; ohne dieses Wort lässt sich das Internet nicht erklären.

Die NZZ hat den Braten zuerst gerochen

Auf diese Weise werden wir im Jahr 1991 fündig, in dem genau zwei Artikel erschienen sind, in denen die Worte Computer und Internet vorkommen: Beide stammen aus der NZZ und der erste ist am 1. Oktober 1991 unter dem Titel Werben um die EDV-Kunden unter neuen Vorzeichen erschienen.

Das ist eine trockene Abhandlung, in der es um eine Auslegeordnung in der Computerbranche geht. Die Vernetzung ist nur ein Teilaspekt und steckt gemäss dem Autor noch in den Kinderschuhen. Aber er ist klar in seinem Urteil, dass sie zunehmend wichtig werden:

Soweit zur Verträglichkeit zwischen Computersystemen. Wie steht es aber mit der Offenheit, wenn wir mehrere Computer zu einem Netz zusammenschliessen wollen? Computernetze gewinnen rasch an Bedeutung. Denn die Globalisierung der Märkte verlangt einen schnellen, sicheren und billigen Informationsaustausch. Eine oberflächliche Betrachtung kann den Eindruck erwecken, dass dank den Kommunikationsstandards von OSI und CCITT jeder Anwender sein eigenes Computer-Netzwerk aufbauen kann.

Wusste die durchschnittlich elitäre NZZ-Leserschaft etwas mit den Abkürzungen OSI und CCITT anzufangen? Oder sind die Medien heute tatsächlich zugänglicher geworden und sehen es nicht als unter ihrer Würde an, sich allgemein verständlich auszudrücken?

Aber ich komme vom Thema ab. Zurück zur Vernetzung: Sie ist als wichtiger Trend erkannt. Aber wie sie erfolgen soll, ist unklar:

Wer sind nun die Mitspieler in diesem als Wachstumsmarkt bezeichneten Geschäft? Teilnehmer sind zuerst einmal die öffentlichen Netze der Universitäten, Forschungsinstitute, Regierungsstellen, wie Internet (das frühere Arpanet), Eam (European Academic Research Net), Switch (Swiss Telecommunication System for Higher Education and Research) und weitere. Die meisten dieser Netze werden mit geringem Verwaltungsaufwand, der auf mehrere Zentren verteilt ist, betrieben.

Dass die Offenheit ein entscheidender Faktor ist, hat der Autor glasklar erkannt:

Ihr Ziel ist, möglichst vielen internationalen Teilnehmern Information und Kommunikation zu bieten. Der Zugang ist einfach, steht jedem offen und ist nicht an irgendeine Hardware gebunden. Deswegen gelten sie zu Recht als die offenen Netze. Sicherheit und Zuverlässigkeit haben jedoch bestimmt nicht die oberste Priorität für ihre Netzwerkbetreiber. Hackergeschichten und -jagten, wie Cliff Stolls unterhaltsamer Bericht über die Jagd der Hannover Hacker, sind an diesen Tatnetzen angesiedelt.

Mit dem unterhaltsamen Bericht ist das Buch The Cuckoo’s Egg von Clifford Stoll gemeint, das auch auf Deutsch erschienen ist: Kuckucksei: Die Jagd auf die deutschen Hacker, die das Pentagon knackten. Das steht jetzt bei mir auf der Leseliste.

Das E-Mail als wichtigste Internet-Anwendung

Wenn das Internet – wie hier ausgeführt – schon 1974 als Begriff entstanden ist, ist es doch bemerkenswert, dass es geschlagene 17 Jahre gedauert hat, bis aus dieser Idee ein Thema für die Medien geworden ist. Umso bemerkenswerter, dass die NZZ schon eine Woche später, am 9. Oktober 1991, darauf zurückkommt. Und zwar deutlich zugänglicher, unter dem schönen Titel Elektronische Liebesbriefe.

Es geht, natürlich, ums E-Mail, und der Bericht scheint fast das Drehbuch für den Film You’ve Got Mail von 1998 vorwegzunehmen:

«Wir hängen sehr aneinander. Es sind bereits 547 Kilobyte an Liebesbriefen.» Die junge Frau, die so ihre Beziehung beschreibt, ist Computerspezialistin in Zürich, ihr Freund ist Wissenschafter im Westen Amerikas. Liebe in den Zeiten der Telekommunikation hat neue Wege gefunden: E-Mail (elektronische Post) ist die Alternative zum teuren Telefongespräch und zum langsamen Brief. Eine E-Mail von einem PC über ein Mailbox-System in der Schweiz an ein Computernetz in den USA geschickt, braucht weniger als zwei Stunden, bis sie beim Empfänger ankommt.

Wie die Kommunikation funktioniert, erklärt der Beitrag auch:

Für Mitarbeiter an Forschungsinstituten und Universitäten weltweit gehört die Kommunikation von Computer zu Computer über Tausende von Meilen hinweg längst zum Alltag. Ihre Inhaus-Netzwerke sind mit einem Gateway an die Aussenwelt angeschlossen, und zwar an das amerikanische Internet, ein nichtkommerzielles System von mehreren Rechnern, die die Nachrichten an die angegebene Adresse weiterleiten. Eine solche Internet-Adresse setzt sich aus dem Namen des Teilnehmers (oft nur der Vorname) und dem seiner Institution zusammen; «Rick@ucar.oah.edu» ist eine typische Adresse aus dem Forschungsbereich. Inzwischen ist Internet auch von kommerziellen Mailbox-Systemen aus zugänglich, wie dem schweizerischen ComNet oder dem US-europäischen CompuServe.

Dieser Beitrag erklärt die neue Kommunikationsmöglichkeit für die ansonsten nicht leicht verständliche Tech-Berichterstattung der NZZ erstaunlich fassbar. Eine Passage bleibt jedoch irreführend. Sie erweckt den Eindruck, als müsste auch ein elektronischer Brief frankiert werden:

Die Kosten sind sehr gering: für 50 Rappen können schon gut 100 Zeilen an Gedanken, Träumen und Erotik ausgetauscht werden.

Es bleibt die Erkenntnis, dass 1991 die Schweizer Medien das Potenzial des Internets längst nicht erkannt haben. Dass daraus etwas werden könnte, ist zwischen den Zeilen zwar zu erahnen. Doch unter dem Strich war die Menschheit – obwohl auch das World Wide Web schon erfunden war – noch verblüffend ahnungslos.


Nachtrag vom 7.6.2024

Der Wurm ist noch immer drin.

Beat Döbeli Honegger hat einen älteren Beitrag gefunden und mich auf Bluesky darauf hingewiesen. Der Beitrag stammt vom 10. Mai 1989 und das Corpus Delicti steckt sogar im Titel: «Der Fall Internet: der Wurm war drin!»

Mit Ausrufezeichen! Dass das damals in der NZZ überhaupt erlaubt war. Warum dieser Artkel in meiner Suchanfrage nicht aufgetaucht ist, harrt einer Abklärung. Vielleicht weil «Computer» im Dativ-Plural steht und sonst von Rechnern die Rede ist? Das wäre ein wirklich dummer Grund.

Die NZZ rehabilitiert sich mit diesem Beitrag zumindest ein bisschen, indem sie zwei Jahre früher übers Internet geschrieben hat, als ich behaupte. Ein neues Licht auf die Computer-Berichterstattung wirft die Fundstelle nicht. Das Internet steht nicht im Zentrum des Berichts, sondern liefert nur die Rahmenhandlung für den Auftritt der Viren und Würmer.

Eindrücklich ist das trotzdem: Man hätte die Sicherheitsprobleme erahnen können, die sich hier auftun, zumal die manifest waren, bevor das Internet überhaupt in der Öffentlichkeit angekommen war. Umso erstaunlicher, wie naiv Microsoft ein gutes Jahrzehnt später mit Windows XP und dem Internet Explorer in ein riesiges Sicherheitsdebakel hineingelaufen ist.

Hier die Feststellung, dass ich meine Recherchemethode überarbeiten muss. Es wird abzuklären sein, ob es noch frühere Berichte gibt. Die Selbstverständlichkeit, mit der die NZZ hier über das Internet berichtet, lässt das vermuten. Ich werde der Sache nachgehen und falls etwas dabei herumkommt, wird es demnächst hier eine Fortsetzung zu lesen geben.

Beitragsbild: Dass die Zeit der isolierten PCs enden würde, war in den 1990er-Jahren und schon vorher klar. Aber dass das Internet dem Inseldasein ein Ende setzen würde, war nicht so zwingend, wie das aus heutiger Sicht erscheint (bert b, Unsplash-Lizenz).

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