Ein grosser Fan von Rammstein war ich nie. In meiner Musiksammlung gab es Mutter als CD. Die Vergangenheitsform ist bewusst gewählt, da ich die weggeschmissen heute hätte, wenn sie im Zug meiner Ripping-Aktion in den Nullerjahren nicht längst hätte über die Klinge springen müssen.
Der Grund für den Rausschmiss liegt im Podcast Rammstein – Row Zero von NDR und Süddeutscher Zeitung (RSS, iTunes, Spotify). Er arbeitet in vier Teilen die Vorwürfe an Frontmann Till Lindemann auf, die die Konzertbesucherin Shelby Lynn im Mai 2023 erhoben hatte. Die waren daraufhin breit diskutiert worden, haben bis jetzt aber zu keinen juristischen Konsequenzen geführt.
Vermutlich würde die NZZ jetzt Cancel Culture beklagen: «Tat man ihm unrecht? Der Rammstein-Sänger Till Lindemann wurde juristisch nicht belangt, moralisch aber längst verurteilt». Aber es sind Krokodilstränen, die Jonas Hermann in Berlin vergiesst, weil schliesslich jede Musikfreundin und jeder Musikfreund selbst entscheiden darf, wann und warum er mit einem Idol Schluss macht.
Ein Nein ist nicht vorgesehen
Es ist die Stärke des Podcasts, die Vorwürfe breit abzustützen. In Folge zwei (Unter der Bühne) kommt Shelby Lynn ausführlich zu Wort, aber sie ist längst nicht die einzige. In der ersten Folge Vorhang auf erzählt Cynthia ihre Erlebnisse. Die Systematik von «Row Zero» als geölte Maschinerie, um Lindemann Sexualobjekte zuzuführen, wird fassbar, ebenso das Machtgefälle. Mehrere Frauen geraten in etwas hinein, das sie so nicht erwartet haben, und wenn sie das realisieren, scheint es für ein Nein zu spät. Shelby Lynn sagt nein, woraufhin Lindemann in Rage gerät.
Die eindrücklichste Folge ist die dritte (Spiel mit Grenzen). Sie beginnt mit den Worten Jasmins:
Es ist über elf Jahre her und jetzt endlich kann ich die Geschehnisse von damals klarer sehen. Ich war gerade vor zwei Wochen 17 Jahre alt geworden, als ich dich im Dezember 2002 kennenlernte. Ich war unglaublich in dich verliebt. (…) Ich bin mit dir und Flake mitgegangen, wollte einfach in deiner Nähe sein. Ihr habt mir Koks angeboten und mich mit Schnaps abgefüllt.
Diese Folge erzählt die Anfänge in den 1990ern nach, wie die Band ihre ersten Songs aufgenommen und Auftritte im Knaack-Klub in Berlin hatte. Und sie macht spürbar, dass das brachiale Auftreten schon immer mehr als ein Spiel war.
«In die Mangel genommen»
Dazu dient die Anekdote rund um den Musiksender MTV und Viva. Als 1997 die Single Engel erscheint, ist das auf Viva zu sehen, auf dem Konkurrenzkanal aber nicht. Das habe dazu geführt, dass jemand vom MTV-Musikmanagement, der wohl mit dafür verantwortlich war, von Band «in den Mangel genommen» worden sei, erzählt Moderator Markus Kavka. Beim Hurricane Festival in Scheessel sei er an einen Stuhl gebunden worden und man habe an seinem Bein eine Rauchbombe gezündet.
Ich habe erst neulich über den Podcast «NDA: Die Akte Kasia Lenhardt» berichtet und den «Spiegel» dafür kritisiert, dass er zu nahe dran ist. Auch dieser Podcast macht über weite Strecken Verdachtsberichterstattung. Es kommen hier jedoch nicht posthum Sprachnachrichten an die Öffentlichkeit, die privat aufgenommen worden sind. Die Frauen können und wollen sich äussern.
Wichtig finde ich auch die Wortmeldungen von Lindemann und Flake. Die sind zwar kurz und stammen aus Drittquellen – und man kann und darf kritisieren, dass sie so ausgewählt wurden, dass sie ins Bild passen. Aber sie passen eben auch erschreckend gut ins Bild:
Frauen wollen ja, dass man ihnen nachsteigt. Das ist das normale Balzverhalten. Jede Frau hat dieses grosse Pfauenrad hinten dran. Und jeder Buntspecht ist bunter als das Weibchen. Der Mann kümmert sich um die Frau, um Balz. Sie kämpfen miteinander, und die Frau steht daneben. Das Weibchen wartet nur darauf, dass irgendwas passiert. (…)
Unter dem Strich geht es um die Verantwortung von Künstlerinnen und Künstlern – und die nimmt man nicht wahr, indem man versucht, die Berichterstattung auf juristischem Weg zu unterdrücken.
Wo kämen wir sonst hin?
Die NZZ insinuiert, diese «moralische» Dimension sei gegenüber der juristischen nachrangig. Ich bin dezidiert anderer Meinung – und die Gründe dafür lassen sich am Fall Rammstein besonders gut diskutieren. Denn natürlich kann man sich auf den Standpunkt stellen, dass Lindemann aus seinen Fantasien nie einen Hehl gemacht hat – Stichwort Fleischgewehr. Geht es noch offensichtlicher, könnte man sich fragen. Darf sich angesichts der expliziten Texte überhaupt jemand wundern?
Für mich funktioniert die Argumentation genau andersherum: Erstens dürfen wir als Publikum voraussetzen, dass Künstlerinnen und Künstler eine Wertschätzung uns gegenüber haben. Zumal wir es sind, die mit Käufen von Tonträgern, Tickets und Merch ihnen eine Existenzberechtigung geben, ihren Star-Status begründen und ihren Lebensstil ermöglichen.
Raus damit
Zweitens steckt in apokalyptischen Auftritten wie von Rammstein das Versprechen, dass alles nur Spektakel ist. Der Künstler, die Künstlerin lebt seine bzw. ihre dunklen Seiten auf der Bühne auf so gruselige Weise aus, damit er oder sie als Privatmensch umso friedlicher, anständiger und umgänglicher ist. Denn wo kämen wir hin, wenn der Krimiautor auch privat morden würde?
Darum ist es offensichtlich so, dass Rammstein bis heute die fundamentale Funktionsweise von Kunst nicht verstanden hat, die jedem 16-jährigen weiblichen Fan völlig klar und bewusst war. Das ist genügend Grund, sie mitsamt ihren CDs aus der Wohnung und aus dem Leben zu verbannen.
Beitragsbild: Die blaue Tonne ist für die CDs (Pawel Czerwinski, Unsplash-Lizenz).