Es gibt einen simplen Trick, um in seinen Videos besonders energetisch, vital und schnell denkend herüberzukommen. Er besteht darin, sämtliche Unterbrechungen des Redeflusses herauszuschneiden: nicht nur die Gedankenpausen, sondern vor allem auch die Momente, in denen die Sprecherin bzw. der Sprecher Luft holt.
Das ist inzwischen nicht bloss eine Notlösung, sondern ein eigentliches Stilmittel. Beweisstück A: Bosetti will reden! Es handelt sich hierbei um eine kurze Comedysendung des Zweiten Deutschen Fernsehens, die einen irreführenden Titel aufweist: Bosetti – gemeint ist die Autorin, Satirikerin, Komikerin und Moderatorin Sarah Bosetti – will nicht nur reden. Sie tut es auch.
Mehr Silben pro Minute!
Sie tut es als menschliches Maschinengewehr, das die Satzsalven in einer Kadenz abschiesst. Uns Zuschauerinnen und Zuschauern bleibt kaum Zeit, die gedanklich zu absorbieren. Bosetti ist eine Schnellsprecherin, die John Olivers Masterclass «Talk so fast that everyone thinks you’re brilliant because they can’t follow»¹ jederzeit mit einem Goldsternchen abschliessen könnte.
Das ist übrigens jener Kursus, bei dem Berni Thurnheer leider durchgefallen wäre, wenn es ihn damals schon gegeben hätte. Nicht, weil sein Mundwerk den Anforderungen nicht Genüge getan hätte. Sondern, weil Schweizerinnen und Schweizer aus Prinzip nicht zugelassen sind. Wir haben schliesslich das Klischee des gemütlichen, auch geistig etwas trägen Bergvölkleins zu erfüllen.
Atmen im Radio
Das heisst jedoch nicht, dass nicht auch hierzulande Videos durch das Eliminieren von Atempausen zeitlich komprimiert werden. Mir ist neulich solcher Fall begegnet. Judith Wernli, eine Moderatorin bei SRF3, hat sich über den Hass aufgeregt, der nach Nemos Sieg auf Nemo eingeprasselt ist. Inhaltlich bin ich voll auf ihrer Seite. Aber da ihre Stellungnahme aus dem Radio stammt, ist die Atemlosigkeit umso seltsamer. Dort wird schliesslich meistens live gesendet, was die Atemgeräusche zu einem unvermeidlichen Teil der Darbietung macht.
Auf mein Genöle meinte Judith Wernli übrigens:
Ich bin ganz bei dir. Im Radio war es doppelt so lange und mit genügend Atempausen.😇 Es war nicht einfach zu kürzen.
Womit wir bei der vermuteten Ursache dieses Phänomens wären: Tiktok. Während der Youtube-Algorithmus die Leute für endloses Schwadronieren belohnt, gibt es bei der chinesischen Plattform ein hartes Limit für die Videolänge. Die Atempausen zu entfernen, ist die einfachste Methode bei einer etwas zu lang geratene Aufnahme. Den Text zu verdichten und eine neue Aufzeichnung zu machen, wäre mehr Arbeit.
@judithwernli Zusammenstehen mit Nemo❤️ Wir freuen uns auf den ESC 2025 in der Schweiz❣️🩷💙💚🧡🩵 #esc #love #schweiz #nemo #zusammen ♬ Originalton – @judithwernli
Das Fernsehen, das nicht das Fernsehen sein will
Aber provoziere ich an dieser Stelle ein OK Boomer², wenn ich sage, dass diese Methode ausserhalb von Tiktok nicht nötig wäre? Sarah Bosetti ist zweifellos in der Lage, ihre Texte so abzufassen, dass sie das Zeitlimit einhält, ohne dass alle fünf Sekunden geschnitten werden müsste. Aber klar; mit dem Ringlicht und dem frontalen Blick in die Kamera tut das Fernsehen so, als ob es nicht das Fernsehen wäre, sondern so unvermittelt und spontan wie jene Leute, die direkt aus ihren Schlafzimmern ins Internet sprechen.
Das Fernsehen tut das, um jung zu wirken und für Menschen interessant zu sein, die Tiktok als ihr Primärmedium betrachten und das ZDF nur deswegen kennen, weil sie Eltern mit altertümlichen Medien-Gewohnheiten besitzen. Die Presse neigt zu ähnlichen Verhaltensweisen, wenn sie verzweifelt versucht, an die junge, news-deprivierte Jugend heranzukommen.
Ein bisschen wie die CDU
Ich kann mit den formalen und inhaltlichen Massstäben, die eine Plattform wie Tiktok setzt, wenig anfangen. Und mir ist schmerzlich bewusst, wie sich ein Mediengraben auftut, der kaum überwindbar scheint. Doch die Imitationsstrategie ist weder souverän noch Erfolg versprechend. Sie wirkt so verzweifelt, wie wenn die CDU die AfD in Schach halten will, indem sie deren Habitus kopiert.
Fazit: Ich würde gern hören, was Bosetti zu sagen hat. Aber mit Atempausen, bitte³!
Fussnoten
1) Das soll nicht heissen, dass im Fall von John Oliver keine Brillanz im Spiel wäre – ganz im Gegenteil! ↩
2) De jure bin ich kein Boomer, sondern Generation X. ↩
3) Ansonsten wäre es auch möglich, alle herausgeschnittenen Atempausen aneinanderzuschneiden und als Entspannungs- oder Einschlafpodcast zu veröffentlichen. ↩
Beitragsbild: Etwas mehr Luft würde nicht schaden – auch zwischen Kamera und Protagonistin (Screenshot Youtube).