Der «Spiegel» ist viel zu nahe dran

Nein, so viele Sprach­nach­rich­ten möchte ich gar nicht hö­ren. Meine Kritik am Pod­cast «NDA: Die Akte Kasia Len­hardt», in dem Jé­rôme Boa­teng eine stum­me Haupt­rol­le spielt.

Die Erzählungen über wahre Verbrechen – neudeutsch True Crime genannt – haben ein Problem: Es gibt einen schmalen Grat zwischen legitimem Interesse und schamlosem Voyeurismus.

Das lässt sich anschaulich anhand der Podcast-Reihe NDA des «Spiegel» diskutieren (RSS, iTunes, Spotify). Sie rollt in der ersten Staffel den Fall von Kasia Lenhardt auf, die mit Fussballstar Jérôme Boateng eine Beziehung unterhalten und im Februar 2021 Suizid begangen hat.

Es geht um häusliche Gewalt, und das Thema lässt sich wunderbar als Audio-Drama inszenieren, weil der «Spiegel» eine grosse Menge von Sprachnachrichten von Lenhardt zur Verfügung hat. Das gibt der Erzählung Authentizität und Dringlichkeit.

Aber es macht diese Produktion auch extrem einseitig: Wir hören nur Kasia Lenhardt. Jérôme Boateng wollte sich nicht äussern und er kommt nur indirekt, über die Anwälte zu Wort, die in einer mehrfach zitierten Aussage festhalten, die Informationen des «Spiegel» seien parteiisch und selektiv.

Mehrere Wahrheiten

Und selbst wenn das anders wäre – also wenn sich auch der Fussballstar geäussert hätte –, ist es ein Merkmal von Konflikten im privaten Raum, dass Aussage gegen Aussage steht. Es gibt Indizien und Beweise, die eine der beiden Sichtweisen stützen. Doch selbst dann ist die Sache nie so eindeutig, wie das Publikum das gern hätte. Denn Krimis, ob wahr oder nicht, sind dann am unterhaltsamsten, wenn wir unsere Sympathie eindeutig zuweisen können.

Ich mag die Behauptung, es gebe «mehrere Wahrheiten» nicht. Sie wird meistens von Leuten benutzt, die klare Fakten ignorieren möchten. Doch im Fall solcher Konflikte halte ich sie für zutreffend: Jeder Beteiligte an einem persönlichen Konflikt hat seine eigene Wahrheit. Das heisst nicht, dass sich die Schuldfrage nicht juristisch klären liesse. Aber es zeigt, dass mit einer oberflächlichen Betrachtungsweise niemandem geholfen ist.

Wie wäre es besser gegangen?

Der Ohrring, der noch eine Rolle spielen wird.

Ist «NDA: Die Akte Kasia Lenhardt» oberflächlich? Ich würde sagen, ja, zwangsläufig. Die beiden Journalistinnen Nora Gantenbrink und Maike Backhaus haben, soweit ich das beurteilen kann, solide recherchiert und berichten nach den journalistischen Regeln der Kunst.

Trotzdem ist mein Eindruck, dass bei diesem Podcast der Aspekt der voyeuristischen Unterhaltung überwiegt und der Erkenntnisgewinn unterliegt¹. Was ist das öffentliche Interesse an dieser Berichterstattung? Dass auch Fussballstars, falls die Vorwürfe denn zutreffen sollten, trotz ihrer Prominenz nicht tun und lassen können, was sie wollen? Das liesse sich meines Erachtens nur anhand eines Falls aussagen, in dem ein Gericht ein abschliessendes Urteil gefällt hat.

Nein, der Aspekt, der den Podcast rechtfertigt, ist das NDA, das schon im Titel steckt. Es handelt sich um ein Non Disclosure Agreement, also um einen Geheimhaltungsvertrag. Als Journalist bekommt man es immer mal wieder mit solchen NDAs zu tun, allerdings geht es bei mir meistens um Sperrfristen, die wir einhalten sollten.

Eine distanziertere Sichtweise

Das NDA, das Kasia Lenhardt unterschreiben musste und das dem «Spiegel» vorliegt, ist ein anderes Kaliber: Es ist einseitig und verbietet der Frau, irgendetwas publik zu machen, das Boateng tangieren könnte. Dass in Beziehungen Prominenter solche Regelungen gibt, ist von öffentlichem Interesse, zumal es in Zeiten von Tiktok und sozialen Medien auch für «normale» Leute Gründe geben könnte, solche Regelungen zu treffen – auch wenn sie nicht einseitig sein sollten, weil das (vermutlich auch im juristischen Sinn) sittenwidrig ist.

Also, zu meiner Kritik: Der «Spiegel» hätte der Versuchung widerstehen sollen, die Sprachnachrichten auf die Weise auszuschlachten, wie er es getan hätte. Stattdessen hätte er stärker auf das titelgebende NDA fokussieren sollen. Und ja, mit fast hundertprozentiger Sicherheit wäre das Resultat weniger klickträchtig ausgefallen. Dafür wäre es gesellschaftlich relevant.

Die Stärken des Mediums Podcast verkannt

In der Bonusfolge Blinde Flecken geht «Spiegel» auf einige dieser Kritikpunkte ein. Zusammen mit Samira El Ouassil – die ich sehr gerne lesen und höre – diskutieren die Podcast-Macherinnen einige der Metathemen. Es geht um die journalistischen Knackpunkte bei einer Verdachtsberichterstattung, und auch um die Rückmeldungen. Es habe Candystorm gegeben und viele von häuslicher Gewalt betroffene Menschen hätten sich in der Berichterstattung wiedergefunden. Das akzeptiere ich als implizite Antwort auf meine Frage nach der öffentlichen Bedeutung des Podcasts.

Aber es bringt mich auch dazu, meine formale Kritik noch härter zu formulieren: Ich empfinde es als Feigenblatt, wenn diese Fragen in einer Bonusfolge quasi als Entschuldigung nachgeschoben werden. Diese Debatten gehört ab Minute 1 in den Podcast hinein. Erinnern wir uns an «Serial», die Podcast-Reihe von Sarah Koenig, die übrigens jetzt in einer neuen Staffel über Geschehnisse im Gefangenenlager der Guantanamo berichtet und beweist, dass sie noch immer Meisterin des Genres ist: Bei ihr gehören die Meta-Diskussionen über die Entstehung und die Reaktionen aus dem Publikum immer dazu. Und das wäre natürlich auch bei «NDA», der über fünf Folgen läuft, die einzig richtige Erzählweise gewesen².

Fussnoten

1) Diese Frage hat mich an die Diskussion erinnert, die ich neulich hatte: Müssten wir wegen des latenten Voyeurismus das Genre des True Crime nicht grundsätzlich infrage stellen? Meine Antwort, Entschuldigung, ist laienphilosophisch ausgefallen:

Meiner Überzeugung nach sind wir als Menschen dem lebenslangen Lernen über alles Menschliche verpflichtet. Dazu zählen auch die Abgründe, und auch die tiefen Einblicke ins Privatleben anderer Personen können Erkenntnisse liefern: Warum Konflikte eskalieren und, im Umkehrschluss, wie wir sinnvoll mit ihnen umgehen.

Aber True Crime ist ohne Zweifel auch enorm unterhaltsam: Wir lassen uns von fremden Tragödien anderer in Atem halten und lehnen uns beruhigt zurück, weil unser eigenes Leben in geordneten Bahnen verläuft. Wir gruseln uns am Bösen, das wir anhand dieser Täter vorgeführt bekommen, aber ohne das Gefühl zu haben, dass das irgendetwas mit uns zu tun hätte: Wir sind die Guten, weil wir das auch verdient haben.

Das scheint mir ein wichtiges und gleichzeitig problematisches Merkmal von True Crime zu sein: Uns ein Gefühl der moralischen Überlegenheit zu geben. Wir führen uns anständig auf, und darum können wir uns auf dem Sofa True-Crime-Podcasts reinziehen, während andere in der Zelle schmoren oder von Medien gejagt werden. Und wenn eine Täter-Opfer-Umkehr passiert, dann haben wir sogar die Möglichkeit, uns erhaben über die Leidtragenden aufzuschwingen.

Wie damit umgehen? Eine distanzierte Erzählweise könnte helfen, auch wenn die der Sensationslust des Publikums diametral zuwiderläuft. Das öffentliche Interesse muss klar erkennbar sein und immer im Vordergrund stehen. Und es hilft, die Fälle mit zeitlicher Distanz zu erzählen – möglichst, nachdem ein Richter abschliessend geurteilt hat.

2) Der «Spiegel» hat für die Abonnentinnen und Abonnenten alle Folgen auf einen Schlag zum Binge-Hören veröffentlicht. Das vereitelt natürlich eine fortlaufende Erzählung mit Einbezug des Publikums. Die Lehre muss sein, sich nicht an Netflix-Mechanismen zu orientieren, sondern an den journalistischen Möglichkeiten und Stärken des Mediums.

Beitragsbild: Und recht hat sie (Rebecca Glossop, Unsplash-Lizenz).

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