Diese Türken! Dieser Türkentrank!

Über die Wunderwirkung von Kaffee – und meine eigene, 75’000 Stunden andauernde Abstinenz von dieser Wahnsinnsdroge.

Ich bin nun 8½ Jahre Kaffee-abstinent. Zugegebenermassen: Das ist eine zu krumme Zahl, als dass eine grosse Jubiläumsfeier angesagt wäre. Im August 2021 wird es so weit sein, dass ich auf eine Dekade ohne die aufgebrühten Bohnen werde anstossen können. Das werde ich selbstverständlich mit einem alkoholischen Getränk tun – ich bin schliesslich kein Puritaner.

Dieser Blogpost hier kommt jedenfalls anderthalb Jahre zu früh. Bis zu meiner Überprüfung jetzt gerade war ich der festen Überzeugung, der Jahrestag sei in Reichweite. Diese Fehleinschätzung lässt sich wahrscheinlich mit Koffeinmangel erklären. Oder aber mit meinem grundsätzlichen Unvermögen, Zeitabstände richtig einzuschätzen. In meiner Wahrnehmung gibt es nur die Zustände Jetzt, Vor Kurzem (ungefähr gestern, vorgestern und ein paar Tage zuvor) und Vor Urzeiten (zehn Tage oder mehr). Der medizinische Fachbegriff für eine gestörte Zeitwahrnehmung ist laut Wikipedia Tachypsychia. Aber es wäre wahrscheinlich hypochondrisch anzunehmen, darunter zu leiden. Schliesslich sind wir alle keine Atomuhren. Die biologischen Hintergründe sind jedenfalls gleichzeitig komplex und faszinierend.

Jedenfalls kann ich an dieser Stelle auch einfach 75’000 Stunden Kaffee-Abstinenz begehen und meinen Blogpost vom Stapel lassen, wie er gedacht war.

Den Dienst der Türken an der Welt

Also, meine seltsamen Trinkgewohnheiten gehen nicht auf eine abstruse religiöse Verhaltenslehre zurück und haben keinen ansatzweise rassistischen Hintergrund. Ich bin nicht Carl Gottlieb Herings Aufforderung gefolgt, nicht so viel von dem «Türkentrank» zu konsumieren und «kein Muselmann» zu sein. Ich bin der dezidierten Meinung, dass die Türken und Muselmänner und der Welt einen Dienst erwiesen haben.

Nein, wie schon im Beitrag Bekenntnisse eines teetrinkenden Nerds ausgeführt, habe ich meine Trinkgewohnheiten wegen meines Magens umgestellt. Der hat damals rebelliert. Und er tut es noch heute. Darum ging ich im August 2011 Cold Turkey (schon wieder diese Türken!) und habe auf auf Cold Brew und Hot brew gleichermassen verzichtet.

Ein Buch über die Menschheitsdroge Nummer 1.

Zur Feier des vermeintlichen Jubiläums habe ich mir das Hörbuch Caffeine: How Caffeine Created the Modern World des US-amerikanischen Journalisten Michael Pollan gegönnt. Das gibt es leider meines Wissens nicht auf Deutsch – aber es ist eine gut verständliche Lektüre.

Die am weitesten verbreitete psychotropische Droge

Das Buch verblüfft den Leser mit der Eröffnung, dass Koffein die am weitesten verbreitete psychotrope Droge sei: Sie macht abhängig und verändert Wahrnehmung, Denken, Fühlen und Handeln. Klar – die Wirkung ist uns hinlänglich bekannt. Aber es überrascht doch, wenn die Droge Kaffee in die gleiche Reihe wie Amphetamine, Ecstasy und Kokain gestellt wird. Aber Pollan stellt denn auch nüchtern fest, dass an einer solchen Abhängigkeit nichts Verkehrt ist, wenn man durch sie nicht ins finanzielle Elend gestürzt wird und keine körperlichen Beeinträchtigungen erleidet.

Pollan geht in seinem Buch zwar auf die Nebenwirkungen ein. Sie bestehen zur Hauptsache in den deutlichen Auswirkungen auf die Schlafgewohnheiten. Auch das ist keine brandneue Erkenntnis. Doch sie seien eben weitreichender, als wir gemeinhin annehmen. Der Autor verweist auf das Buch Why we Sleep von Matt Walker, das es nun seinerseits zum Glück auf Deutsch gibt. Es heisst Das grosse Buch vom Schlaf.

Die interessanteste Passage im Buch steckt auch im Untertitel: Kaffee habe die moderne Welt erst möglich gemacht. Seine anregende Wirkung hat, so der Autor, das rationale Denken gefördert, Geistesarbeiter bei ihrem Tageswerk unterstützt und zur industriellen Revolution beigetragen.

Ein Zündfunke für die industrielle Revolution

Das klingt nach einer gewagten Behauptung, die sich letztlich nicht schlüssig beweisen lässt. Aber die Indizien leuchten ein. Und es ist wahrscheinlich in der Tat kein Zufall, dass zum Beispiel der Versicherungskonzern Lloyd’s of London in einem Kaffeehaus entstanden ist. Apropos: Neu und verblüffend für mich war auch die Einsicht, dass die Briten erst dem Kaffee verfallen waren und bloss deswegen auf Tee umgeschwenkt sind, weil sie in ihren Kolonien viele Anbaugebiete für Tee, aber keine für Kaffee hatten.

Für Europa war der Kaffee ein Glücksfall. Denn vorher war das Bier das Getränk, das man aus Gesundheitsgründen zu sich genommen hat – weil keimfrei und sauber. Aber sich schon morgens einen Alkoholschleier überzuziehen, ist weder gesund noch leistungsfördernd. Da lässt man sich dann doch überzeugen, dass der Umstieg auf Kaffee für die Gesell- und Arbeiterschaft ein Glücksfall war. Ganz abgesehen davon, dass man dank der aufputschenden Wirkung später schlappmacht und längere Arbeitstage absolvieren kann.

Kaffee gegen Schreibblokaden

Michael Pollan stellt auch die Behauptung in den Raum, dass man als Individuum unter Koffeineinfluss konzentrierte und disziplinierter, aber auch mutiger und selbstbewusster ist. Er erzählt am Anfang seines Buchs vom Selbstversuch, für eine längere Zeit auf Kaffee zu verzichten. Er hätte daraufhin das Buchprojekt fast aufgegeben. Ihm sei das Vertrauen in sich und das Thema abhanden gekommen und die Schreibblockaden seien immer schwerer zu überwinden gewesen.

Darf ich an dieser Stelle auf meine eigenen Erfahrungen zurückzukommen? Mir scheint Pollans Schilderung des heroischen Koffeinentzugs etwas gar dramatisiert. Damals, vor 8½ Jahren, habe ich nicht unter dem Koffeinentzug gelitten. Klar – ich habe ihn unter anderen Umständen absolviert. Erstens waren die ausbleibenden Magenkrämpfe überaus motivierend. Zweitens bin ich auf Tee umgestiegen. Und der enthält in manchen Sorten bekanntlich auch Koffein.

Weniger Koffein und ich habs überlebt

Trotzdem ist mein Koffeinkonsums markant gesunken; auf ungefähr einen Fünftel bis ein Zehntel: Ich habe vorher mindestens vier, fünf oder mehr Tassen Kaffee getrunken. Heute sind es ein bis drei Tassen Tee, die jeweils einen ungefähr halb so grossen Koffeinanteil haben. Und das ist doch einen Jahrestag wert, auch wenn ich noch bis zum August 2021 warten muss…

Beitragsbild: Nein danke, für mich nicht (Foodie Factor, Pexels-Lizenz).

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