War ers oder war ers nicht?

Im Podcast «Cold» wird das Ver­schwin­den einer Frau aus Utah akri­bisch nach­ge­zeich­net. Und obwohl Jour­na­list Dave Cawley nichts un­ver­sucht lässt und klare Ver­dachts­mo­men­te heraus­ar­bei­tet, bleibt der Ver­bleib von Susan Powell auch am Ende der letzten Folge un­ge­klärt.

Es ist unverkennbar: Der Podcast hat es geschafft, zu einem eigenen, ernsthaften Medium zu werden – und er hat seine eigene Sprache gefunden. Er ist nicht mehr bloss Radio in Konservenform oder ein im Netz veröffentlichtes Stammtischgespräch. Er verwendet zwar bekannte Versatzstücke – doch auf eine eigenständige, glaubwürdige Weise.

Ich komme zu diesem Schluss, weil ich in letzter Zeit immer wieder Produktionen begegne, die das leisten, was nur ein Podcast zu leisten vermag. Sie sind kein  Radiofeature, keine Fernsehdokumentation ohne Bild und kein Hörspiel. Sondern eine Audio-Erzählung, bei der die Stimme des Erzähler im Zentrum eines dichten Geflechts aus Gesprächen, O-Tönen, Atmo und Musik steht. Die Geschichte beruht auf Tatsachen, doch die Präsentation erinnert an eine Abenteuergeschichte, die der Erzähler nun brühwarm am Lagerfeuer zum Besten gibt.

Auch Nebenaspekte werden ausführlichst beleuchtet

Der Podcast hat keine Angst, in die Tiefe zu gehen, Details auszuwalzen und auch Nebenaspekte in extenso zu beleuchten. Damit unterscheidet er sich von der typischen Fernsehproduktion – und auch von allen anderen Medien, wo man Angst hat, das Publikum könnte beim ersten Anflug von Langeweile abschalten, wegzappen oder weiterklicken. Denn wer mit einem Podcast anfängt, der zieht es auch durch. Das ist genauso wie bei einem Roman, wobei auch hier die Ausnahmen die Regeln bestätigen.

Damit hat es «Serial» (Die Longform als Podcast) tatsächlich geschafft, ein neues Genre zu erfinden und den Podcast zu dem Medium zu machen, das wir Podcast-Fans der ersten Stunde schon immer in ihm gesehen haben. Die Umsetzung ist heute ein bisschen lockerer – ganz so gross wie bei «Serial» ist der Aufwand nicht mehr, gerade, was die Musik und das Sounddesign angeht. Die Produktionsunternehmen gehen routinierter und manchmal auch etwas nachlässiger ans Werk.

Aber das schadet nicht – ein Podcast kann mit geringen Mitteln auch jene Geschichte überzeugend erzählen, denen man in Dokudrama-Form immer das zu schmale Budget ansieht. Gutes Original-Audio gibt es schliesslich fast gratis – brauchbares Videomaterial aufzutreiben, ist dagegen enorm aufwändig bis annähernd unmöglich.

Ein Podcast ist, wie ein Roman oder ein Sachbuch, in aller Regel ein Autorenwerk: Eine Person kann es, allenfalls mit technischer Hilfe, im Alleingang produzieren. Das ist ein entscheidender Unterschied zu einem Film, der nie eine einzige Unterschrift trägt.

Aus der Anonymität heraustreten

Und es ist, nebenbei bemerkt, eine riesige Chance für den Journalismus: Investigative Reporter treten aus der Anonymität ihres Mediums heraus und werden zu ihrem eigenen Markenzeichen. Das sieht man übrigens auch gut bei dem Podcast, um den es heute geht. Sein Autor berichtet in 17 Folgen neutral, wie es sich für einen Reporter gehört. Doch in der letzten Folge äussert er sich persönlich. Das ist zwar reichlich schwülstig – aber trotzdem sehr authentisch.

Mit dieser Einleitung, die auch – aber nicht nur – auf den heutigen Podcast-Tipp zutrifft, sind wir beim heutigen Tipp angelangt. Es handelt sich um Cold – die Susan Powell Case Files (RSS, Spotify, iTunes, Youtube). Und ja, es geht wieder einmal um einen True-Crime-Fall. Das sollte nicht wundern: «Serial» hat vorexerziert, wie gut sich ein ungelöster Kriminalfall fürs Storytelling à la Podcast eignet. Es gibt Emotionen, Rätsel, Irrwege und meist viel Material, das sich zu einer spannenden Collage verdichten lässt.

Darum ist «Cold» als Podcast spannend, obwohl es am Schluss keine Verhaftung, Verurteilung und Wiederherstellung von Recht und Ordnung gibt. Es geht um Susan Powell und ihr Verschwinden.

Die Frau aus West Valley City, Utah, ist im Dezember 2009 verschwunden. Es gibt gewisse Anzeichen dafür, dass sie einem Mord zum Opfer gefallen ist – zumal sie, wie der Podcast schon in den ersten Folgen nachweist, wegen ihrer Lebensversicherung «tot mehr wert war als lebendig». Und es gibt klare Verdächtige: nämlich ihr Ehemann Joshua «Josh» Powell und allenfalls auch dessen Vater, Steven. Der hatte eine ungesunde Neigung für seine Schwiegertochter und pflegte ziemlich unerfreuliche Fetische.

Es gilt die Unschuldsvermutung

Doch eben: Es gilt die Unschuldsvermutung, selbst wenn es viele Indizien und kaum alternative Theorien gibt.

Einschub: In den USA ist die Unschuldsvermutung offenbar nicht so weitreichend, wie bei uns. Hier lese ich:

Dabei ist die Unschulds­vermutung im US-Recht auf die Beweis­last­regel in dubio pro reo beschränkt, während sie im kontinental­europäischen Raum auch die Würde des Verdäch­tigen sichert.

Das macht es natürlich einfacher für einen Podcast, der einen Verdächtigen hat, dem nichts bewiesen werden konnte. Trotzdem ist der Umgang mit dieser Ambivalenz überzeugend: Der Podcast rollt in akribischer Detailverliebtheit die frustrierenden Versuche von Polizei, Opferfamilie und Medien auf, die Verdachtsmomente zu erhärten und die Tat aufzuklären. Doch wenn die vermisste Frau nicht gefunden werden kann, keine Beweise aufzutreiben sind und der Ehemann sich zwar auffällig verdächtig verhält, aber eben kein Geständnis ablegt, dann lässt sich eben nichts ausrichten.

Der Podcast stammt von einem Reporter von KSL, einem Newssender aus Salt Lake City. Dave Cawley konnte auf eine Unmenge an Originalmaterial zurückgreifen. Denn Sohn und Vater, Josh und Steven Powell haben Unmengen an Video und Audio hinterlassen. Josh hat Audio-Tagebuch geführt und seine Kommentare zu vielen (aber logischerweise nicht allen) Ereignissen hinterlassen. Steven seinerseits filmte bei allen möglichen und unmöglichen Gelegenheiten – und er hat seine Neigung auch in unzähligen Songs festgehalten, die er in seinem Heimstudio aufgenommen hat.

Eine Podcast-Goldgrube

Mit anderen Worten: Cawley ist auf eine podcastmässige Goldgrube gestossen. Er konnte in seinem Podcast Leute zu Wort kommen lassen, die typischerweise in so einem Podcast nichts sagen würden – ganz abgesehen davon, dass sie nicht mehr in der Lage sind, etwas zu sagen. Susan Powell hat zwar keine Aufnahmen hinterlassen. Doch auch sie hat Tagebuch geführt. Cawley hat Auszüge aus ihren Memoiren nachsprechen und in die Geschichte einfliessen lassen.

Es kommt hinzu, dass in den USA die Medien auch an Aufzeichnungen von polizeilichen Einvernehmungen herankommen. So hört man denn im Original, wie sich Josh bei den Befragungen windet, empathie- und verständnislos gibt. Aber sich eben auch nicht überführen lässt. (Wie gesagt, es gilt die Unschuldsvermutung.)

Wieso sollte uns dieser Fall interessieren?

Es bleibt trotzdem die Frage: Wieso sollte einen dieser Fall interessieren? Wie bei Per Podcast in die Mörderseele blicken ausgeführt: Der konkrete Erkenntnisgewinn ist gering – denn wie ungesunde Beziehungen aus dem Ruder laufen können, wussten wir schon vorher. Ebenso, dass es Menschen gibt, die man nicht auf die Menschheit loslassen sollte.

Aber wenn man nicht auf maximalen Erkenntnisgewinn aus ist, dann erfährt man viel über die Arbeit der Polizei, bekommt die Sichtweisen der Beteiligten im O-Ton serviert und erhält ein gutes Korrektiv zu der notorisch romantisierenden Darstellungen in den Kriminalromanen und -filmen. Man braucht allerdings etwas Zeit: «Cold» umfasst 18 Folgen von je ungefähr einer Stunde.

Beitragsbild: Utah bietet sehr viel Platz und Möglichkeiten, wenn man eine Leiche würde verstecken wollen (Lukas Kloeppel/Pexels, Pixel-Lizenz).

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